Obiora Ike zum Ende des nigerianischen Bürgerkriegs 1970

"Über Erinnerungen zu sprechen hilft, ein Trauma zu heilen"

Obiora Ike, ehemaliger Generalvikar des Bistums Enugu in Nigeria, hat den Biafra-Krieg als Kind miterlebt. Er kritisiert eine mangelnde Aufarbeitung. Der Bürgerkrieg kostete zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen das Leben. 

Autor/in:
Katrin Gänsler
Ein in Deutschland lebender Nigerianer trägt während des Schweigemarsches gegen den "Völkermord in Nigeria" am 16. August 1968 vor der Paulskirche in Frankfurt am Main ein Kreuz.  / © N,N. (KNA)
Ein in Deutschland lebender Nigerianer trägt während des Schweigemarsches gegen den "Völkermord in Nigeria" am 16. August 1968 vor der Paulskirche in Frankfurt am Main ein Kreuz. / © N,N. ( KNA )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Monsignore Ike, an diesem 15. Januar jährt sich das Ende des Biafra-Kriegs im Südosten Nigerias zum 50. Mal. Was ging dem voraus?

Obiora Ike (Direktor des Instituts Globalethics.net und ehemaliger Generalvikar des nigerianischen Bistums Enugu): Als die Briten 1960 Nigeria übergaben, war es kein geeintes Land. Es war ein Gebiet mit verschiedenen ethnischen Gruppen. Der Norden wäre lieber unter der britischen Kolonialverwaltung geblieben. Der Süden konnte die Unabhängigkeit gar nicht erwarten. Ab 1962 war es fast unmöglich, Nigeria zu regieren. Dann kam der Staatsstreich am 15. Januar 1966, der sehr blutig verlief. Viel Lärm gab es aber nicht. Nigeria schwieg.

KNA: Kurze Zeit später begannen die Pogrome im Norden.

Ike: Das war im Mai, weil es fälschlicherweise hieß, der Staatsstreich sei ein Igbo-Staatsstreich gewesen. Geplant hatten ihn aber Soldaten unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Bis heute ist noch viel Aufarbeitung notwendig, um die Wahrheit herauszufinden. Jedenfalls gehörten wir zu jenen, an denen ein Völkermord begangen wurde [Anmerkung d. Red.: Ike ist Igbo] - so muss man das nennen. 30.000 Menschen starben in wenigen Monaten im Norden. Auch meine Familie lebte dort und musste in den Südosten fliehen.

KNA: Ein Jahr später, am 30. Mai 1967, erklärte der damalige Militärgouverneur der Ostregion, Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu, Biafra für unabhängig. Und wieder gut einen Monat später brach der Krieg aus, der 30 Monate dauerte. Woran erinnern Sie sich?

Ike: Als der Krieg endete, war ich 14 - ein junger Mensch, der Waffen und Bomben gesehen hat. Die Kinder litten an einem Hunger-Ödem. Eine Million von ihnen starben, vielleicht mehr. Kinder wurden ausgeflogen und kamen nie zurück. Heute sind sie auf der ganzen Welt zerstreut. Dazu kommen die zerstörten Gebäude.

KNA: Denken Sie bis heute täglich daran zurück?

Ike: Nein. Das Leben ging weiter. Das lag auch daran, dass die nigerianische Regierung nach dem Krieg die Untersuchung der Geschichte verboten hat. Wenn man die Geschichte wegsperrt, sperrt man auch Erinnerungen zu. In Deutschland ist das anders, wo ständig über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wird. Hier in Nigeria wurde aber zum Kriegsende folgender Slogan verkündet: Kein Sieger, keine Besiegten. Man vergaß den Krieg.

KNA: Wird die Geschichte nicht im Schulunterricht aufgearbeitet?

Ike: Mitunter sprechen Eltern mit ihren Kindern über Erinnerungen. Geschichte wird aber gar nicht unterrichtet. Das bedeutet, dass wir eine Jugendgeneration haben, die vom Krieg bis vor kurzen gar nichts gehört hat. Aufgrund der aktuellen sozialen Ungerechtigkeit interessieren sie sich aber für Bewegungen wie MASSOB (Bewegung für die Schaffung des souveränen Staates Biafra) und IPOB (Indigene Menschen von Biafra) [Anmerkung d. Red.: radikale Bewegungen, die eine Unabhängigkeit Biafras wollen]. Dort kommt es zu vielen Fehlinterpretationen; es werden auch falsche Konsequenzen gezogen. Ich setze mich dafür ein, dass Geschichte wieder unterrichtet wird. Gut ist, dass Bücher über den Krieg erschienen sind.

KNA: Sie haben in Deutschland, das sich seit Jahrzehnten mit seiner NS-Vergangenheit auseinandersetzt, gelebt und gearbeitet. Welche Strategie ist die bessere?

Ike: Wahrheit muss gefunden und geteilt werden. Wenn das nicht gelingt, muss zumindest darüber gesprochen werden. Über Erinnerungen zu sprechen hilft, ein Trauma zu heilen. Das führt letztlich zu Versöhnung und auch dazu, dass so etwas kein weiteres Mal geschieht.

Deutschland ist das beste Beispiel. Die Geschichte ist beschämend - und doch muss man sich ihr stellen. Nicht darüber zu sprechen, ist allerdings auch eine afrikanische Art, damit umzugehen. Ruanda ist ein Gegenbeispiel.

KNA: Beeinflusst der Krieg bis heute Nigerias Politik?

Ike: Natürlich. Die Sieger profitieren von ihrer Beute. Nach dem Krieg wurden den Igbo ihre Besitztümer in Nigeria nicht zugestanden. Von den Ersparnissen, egal wie hoch sie waren, bekam man nur 20 Pfund. Als jemand aus Biafra fand man keinen Job. Andere haben diese Lücken gefüllt. Dabei sind die Igbos die Panafrikanisten, die viel gereist und gut ausgebildet sind. Dieses Problem ist bis heute nicht gelöst. Die Ressourcen aus dieser Region können sie beispielsweise gar nicht selbst verwalten. Man muss nur an das Niger-Delta denken, Nigerias Ölregion.

KNA: Welche Lehren haben Sie persönlich aus dem Krieg gezogen?

Ike: Niemand darf einen Krieg fördern. Krieg ist eins der schlimmsten Dinge, die einer Nation passieren können. Als Erwachsener war mir deshalb wichtig, mich für den Frieden einzusetzen. So habe ich das katholische Institut für Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden gegründet.


In der Stadt Enugu im ehemaligen Biafra / © Katrin Gänsler (KNA)
In der Stadt Enugu im ehemaligen Biafra / © Katrin Gänsler ( KNA )
Quelle:
KNA