AGIAMONDO-Preisträgerin hilft beim Überleben in der brasilianischen Trockensteppe

"Es fehlt nicht an Wasser, sondern an Gerechtigkeit"

Leben im Einklang mit dem Klima – das versuchen die Bewohner im Nordosten Brasiliens, wo überwiegend Trockenheit und Dürre herrschen. Hilfe bekommen die Kleinbauern, die außerdem um ihr Recht auf Land kämpfen, von Maria Oberhofer.

In den Dörfern der brasilianischen Caatinga leistet Maria Oberhofer wichtige Aufklärungsarbeit / © Kopp (Agiamondo)
In den Dörfern der brasilianischen Caatinga leistet Maria Oberhofer wichtige Aufklärungsarbeit / © Kopp ( Agiamondo )

DOMRADIO.DE: Frau Oberhofer, seit 24 Jahren arbeiten Sie in der brasilianischen Caatinga einer besonders trockenen Landschaft, mit dem lokalen Institut für angepasste Kleinbauernwirtschaft und Tierhaltung – portugiesisch kurz IRPAA – zusammen. Sie unterstützen die dortigen Bauerngemeinden als Nachfahren der indigenen Bewohner und anderer traditioneller Völker dabei, im Einklang mit dem Klima leben zu können. Das ist eine enorme Herausforderung. Denn in dieser Region leben etwa 22 Millionen Menschen, und die Bedingungen sind hart. Mit welchen Themen werden Sie dort konfrontiert?

Maria Oberhofer (Fachkraft bei der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe und Beraterin für Landfragen, Menschenrechte und Bildung in Brasilien): Das Hauptthema ist der Mangel an Wasser, der natürlich mit den klimatischen Bedingungen zusammenhängt. Denn Caatinga bedeutet trockene Steppe. Alle 26 Jahre wiederholt sich dort eine extreme Dürrezeit, die sich jedes Mal Existenz bedrohend auf die Menschen auswirkt. Aber auch in einem ganz normalen Jahr fällt acht Monate lang kein Regen, und wenn er fällt, dann unregelmäßig.

Also geht es primär um die Wasserversorgung, die für eine Familie, für die ganze Dorfgemeinschaft, für Landwirtschaft und die Tierhaltung, aber auch präventiv für anhaltende Trockenperioden aus Regenwasser oder Grundwasser sichergestellt werden muss. Früher mussten die Frauen, die für die Beschaffung von Trinkwasser in einem Haushalt verantwortlich sind, kilometerweit zum nächsten Brunnen oder Wassertankwagen laufen. Heute hat aufgrund der Intervention von IRPAA und vielen weiteren sozialen Organisationen fast jede Familie eines Dorfes eine eigene Zisterne und damit einen ausreichenden Wasservorrat für ihren Trinkbedarf.

DOMRADIO.DE: Wasser allein aber reicht ja noch nicht zum Überleben…

Oberhofer: Genau. Ein zweites Problem, eng an die Wasserthematik gekoppelt, ist die Klärung der Landfrage, wer wie viel Land braucht und wem es gehört, um sich aus Landwirtschaft und Tierhaltung überlebensfähig ernähren zu können. Die Besetzung Brasiliens durch die Portugiesen, die glaubten, diesen Kontinent um das Jahr 1500 "entdeckt" zu haben und es sich durch Völkermord aneignen zu können, wirkt sich bis heute auf die Landbevölkerung aus.

Ein Landgesetz von 1850 besagt, dass Land nur besitzen darf, wer es auch bezahlen kann. Daraus leiten die Großgrundbesitzer für sich das Recht ab, irgendwelche Flächen als ihr Eigentum zu deklarieren und die Rechte der Kleinbauern, die sich den Erwerb von Land nicht leisten können, sich aber auf vielen öffentlichen Flächen niedergelassen haben und hier eine nachhaltige Bewirtschaftung vornehmen, aus der sich eigentlich ein gesetzlich verbrieftes Nutzungsrecht für sie ergibt, mit Füßen treten zu können. Diese illegalen Machenschaften sorgen für große Ungerechtigkeit und mangelnden sozialen Frieden.

Also, insgesamt geht es für die Menschen im Nordosten Brasiliens darum, einerseits zu lernen, sich der klimatischen Realität anzupassen – wir nennen das "Konviventia mit dem semiariden oder auch halbtrockenen Klima" – und andererseits in ihren Rechten gestärkt zu werden. Wenn beides gelingt – und da setzt meine Arbeit an – ist für viele ein gutes Leben in der Caatinga durchaus möglich.

DOMRADIO.DE: Das heißt, eigentlich fehlt es nicht an Ressourcen, sondern an Gerechtigkeit…

Oberhofer: Die Elite im Land hat sehr viel Macht und setzt ihre Interessen skrupellos durch. Dazu gehört auch, dass Staudämme, in denen riesige Wasservorräte gespeichert werden, privatisiert sind. Den Kleinbauern will die Regierung dann weismachen, dass die Trockenheit, die letztlich arm macht, gottgewollt ist. Sie vertreten: Der fehlende Regen sei die Ursache für Armut und in der Folge für den sozialen Ausschluss. Das Gegenteil hingegen ist der Fall: Die Not ist systemgewollt. Und daher argumentiert das IRPAA genau umgekehrt, wenn es sagt: Die Natur ist unsere Freundin.

Und es schult die Menschen darin, den Regenzyklus zu verstehen und ihn in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Menschen müssen von der Natur lernen, um ihr Leben entsprechend einzurichten. In den letzten Jahren sind jedenfalls in Zusammenarbeit mit vielen NROs über eine Million Regenzisternen in der Caatinga entstanden. Denn IRPAA schlägt immer wieder – im Gegensatz zu den Regierungsbehörden, die auf ökologisch fragwürdige Großprojekte bei der Bekämpfung der Trockenheit setzen – angepasste Maßnahmen zur sozio-ökonomischen und Umwelt gerechten Entwicklung der Region vor, mit denen die Familienlandwirtschaft, die Lebensgrundlage der Einwohner, gefördert wird. Am Ende fungieren die Menschen, die in dem Wissen um die Zusammenhänge von Klima, Landwirtschaft und Tierhaltung geschult werden, als Multiplikatoren für ihre jeweilige Landgemeinde. Das ist ein ganz wichtiger Effekt.

DOMRADIO.DE: Wofür genau steht denn Ihr Arbeitgeber IRPAA?

Oberhofer: Das regionale Institut für angepasste Kleinbauernlandwirtschaft und Tierhaltung, wie die Abkürzung aus dem Portugiesischen übersetzt wird, arbeitet pädagogisch, politisch, technisch und bewusstseinsbildend mit Schulen, Kleinbauern und Familien. Konkret: Es geht um eine gerechtere Umverteilung des Landes, um an das Klima angepasste Produktionsweisen, das Sammeln von Wasserressourcen und um einen ebenfalls das Klima der Caatinga-Umgebung speziell berücksichtigenden Schulunterricht, in dem die Kinder mit Materialien arbeiten, die ihnen aus ihrem Lebensraum bekannt vorkommen.

Bei den Lerninhalten soll die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen einbezogen werden und Lehrstoff vermittelt werden, der ihre Lebenssituation abbildet. Über lange Zeit fand in den Schulen realitätsferner Unterricht statt, der die Kinder und Jugendlichen eher ermutigte, nach ihrer Volljährigkeit in die Großstädte abzuwandern, wo wiederum große Arbeitslosigkeit herrscht.

Diese Tendenz nimmt nun deutlich ab. Wer alles Notwendige zum Leben in der Caatinga hat, bleibt. Eine an der Realität ausgerichtete Pädagogik und dazu passende Schulbücher, an denen ich in den letzten Jahren verstärkt mitgearbeitet habe, sind ein ganz wesentlicher Puzzlestein der "Konviventia" mit dem semiariden Klima. Denn nur was die Menschen kennen, können sie auch schützen und lieben.

DOMRADIO.DE: Sie sprechen von ungerechter Landverteilung. Wie viel Land braucht denn eine Familie, um nachhaltig wirtschaften zu können?

Oberhofer: In der Caatinga ist Ziegen- und Schafhaltung möglich, weil diese Tier am besten mit der Trockenheit klar kommen. Man veranschlagt für jede Ziege einen Hektar Land. Eine Familie benötigt je nach Größe für ein auskömmliches Leben bis zu 300 Ziegen. Da lässt sich leicht hochrechnen, dass die Landfläche für die einzelne Familie, aber auch die für die gemeinschaftlich von einem ganzen Dorfverein genutzten Weiden entsprechend groß sein muss. Natürlich würden manche auch gerne Rinder halten, aber dafür müsste die natürliche Vegetation abgeholzt werden und Wiesen müssten kultiviert werden.

Diese Rodungen in Südamerika aber wirken sich ja, wie wir längst wissen, auch auf das Leben in unseren Breitengraden aus und sind mitursächlich für den Klimawandel. Das heißt, dem Klima angepasstes Leben und Wirtschaften müssen anders aussehen. Dass es selbst bei Ziegenhaltung nicht zur Überweidung kommt, wie wir das nennen – also wenn es für viele Tiere nicht eine ausreichende Weidefläche gibt – halten die Dorfgemeinschaften mittlerweile gut im Blick. Dafür gibt es das Vereinswesen mit Statuten: Niemand darf die Caatinga abholzen. Das ist genau geregelt.

Allerdings haben die Kleinbauerfamilien erst in den letzten zwei Jahrzehnten damit begonnen, ihre Geschichte von der portugiesischen Besatzung an aufzuarbeiten. Ihre Rinderhaltung im semiariden Gebiet war die erste unangepasste Nutzungsform der Caatinga, gefolgt von weiten Rodungen und der Installation der Latifundien.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, die soziale Ungleichheit ist nicht klimabedingt. Welche Faktoren machen Sie denn dafür verantwortlich?

Oberhofer: Machtstrukturen, die – seit der Invasion der Portugiesen – in den letzten 500 Jahren aufrecht erhalten wurden. Die Europäer haben das Land und seine Schätze ausgebeutet: Brasilholz, Gold, Kaffee, Edelsteine, Diamanten. Bis heute ist es eigentlich so, dass die Kleinbauern kaum mit ihren Rechten anerkannt werden. Wenn wir sie nicht entsprechend beraten und stärken würden, wären sie ganz leicht zu vertreiben. Denn gegen die Übermacht der weißen Elite könnten sie sich nicht zur Wehr setzen. IRPAA übernimmt zwar nicht den Kampf für diese Leute – kämpfen müssen sie schon selbst für ihre Interessen und ihr Recht – aber wir helfen ihnen dabei, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt dabei die Genderfrage?

Oberhofer: Brasilien ist ein patriarchalisches Land. Frauen haben dort wenig zu sagen. Als IRPAA vor 30 Jahren mit seinen Programmen für die Kleinbauern startete, kamen zunächst nur Männer in die Kurse. Die Männer ließen ihre Frauen an unseren Schulungen nicht teilnehmen. Dabei haben sie mit ihrer Fürsorge noch einmal einen ganz anderen Sinn für Pragmatik.

Uns ging es dann darum, auch ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen. Daher boten wir dann reine Frauenkurse an. Mittlerweile haben sich die Frauen soweit emanzipiert, dass sie gemeinsam mit ihren Männern an diesen Unterrichtseinheiten teilnehmen können und sogar vereinzelt Präsidentinnen von den Bauervereinigungen werden.

Außerdem sind sie in Kooperativen aktiv, die dazu eingerichtet wurden, die Früchte des Umbu-Baumes, die wir auch "Grünes Gold" nennen, zu Marmelade zu verarbeiten und sie sogar zu vermarkten. Auch wenn die Importe aus dem Ausland wie beispielsweise Coca-Cola bei der Landbevölkerung hoch im Kurs sind, ist ganz wichtig, dass diese Menschen das, was sie selbst ernten, wertschätzen lernen und von ihren Erträgen leben können. Denn einen Zugang zu heimischer gesunder Nahrung zu haben, bedeutet Lebensqualität und macht unabhängig von politischer Willkür.

DOMRADIO.DE: Das AGEH-Programm sieht immer ein gegenseitiges Lernen vor: den Austausch zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Was haben Sie in Brasilien gelernt?

Oberhofer: Vertrauen in die Fähigkeiten dieser Menschen, die, wenn man nur auf ihrer Seite ist, viel aus sich selbst können. Und auch sonst habe ich mir von den Kleinbauern in der Caatinga eine ganze Menge abschauen können, was man an keiner Uni lernt. Sehr bald habe ich mir damals, als ich im Jahr 1995 die Arbeit bei IPRAA begann, die Frage gestellt: Was braucht man wirklich zum Leben? Im Grunde ist es ganz wenig. Und trotzdem fühle ich mich heute sehr reich. Denn das Leben mit den kleinbäuerlichen Familien im Landesinneren von Brasilien ist ein sehr bewusstes Leben.

Das Interview führte Beatrice Tomasett (DR). 

Sehen Sie hier die Bilder vom AGIAMONDO-Festakt mit Preisverleihung.


Maria Oberhofer ist für AGIAMONDO im Nordosten Brasiliens unterwegs / © Beatrice Tomasetti (DR)
Maria Oberhofer ist für AGIAMONDO im Nordosten Brasiliens unterwegs / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Ziegen gehören zu den Tieren in der Trockensteppe, die dort bevorzugt im Einklang mit dem Klima gehalten werden können / © Kopp (Agiamondo)
Ziegen gehören zu den Tieren in der Trockensteppe, die dort bevorzugt im Einklang mit dem Klima gehalten werden können / © Kopp ( Agiamondo )

Wer viele Ziegen besitzt, benötigt entsprechend viel Land, kann aber trotzdem dann in dieser trockenen Region überleben / © Kopp (Agiamondo)
Wer viele Ziegen besitzt, benötigt entsprechend viel Land, kann aber trotzdem dann in dieser trockenen Region überleben / © Kopp ( Agiamondo )

Die jahrelange Begleitung der Familien in der Caatinga durch Maria Oberhofer führt zu vertrauensvollen Beziehungen mit den Kleinbauern / © Kopp (Agiamondo)
Die jahrelange Begleitung der Familien in der Caatinga durch Maria Oberhofer führt zu vertrauensvollen Beziehungen mit den Kleinbauern / © Kopp ( Agiamondo )

Gespräche am Küchentisch: Viele Familien sind auf den Rat von Maria Oberhofer angewiesen / © Kopp (Agiamondo)
Gespräche am Küchentisch: Viele Familien sind auf den Rat von Maria Oberhofer angewiesen / © Kopp ( Agiamondo )

"Grünes Gold" nennen die Dorfbewohner die säuerliche Umbu-Frucht / © Kopp (Agiamondo)
"Grünes Gold" nennen die Dorfbewohner die säuerliche Umbu-Frucht / © Kopp ( Agiamondo )

Aus der Frucht des Umbu-Baumes kochen die Frauen der Caatinga Marmelade und verkaufen diese dann / © Kopp (Agiamondo)
Aus der Frucht des Umbu-Baumes kochen die Frauen der Caatinga Marmelade und verkaufen diese dann / © Kopp ( Agiamondo )

Mit der Unterstützung des lokalen Institutes für angepasste Kleinbauernlandwirtschaft und Tierhaltung (IRPAA) haben die Menschen ein Stück politischer Freiheit gewonnen / © Kopp (Agiamondo)
Mit der Unterstützung des lokalen Institutes für angepasste Kleinbauernlandwirtschaft und Tierhaltung (IRPAA) haben die Menschen ein Stück politischer Freiheit gewonnen / © Kopp ( Agiamondo )
Quelle:
DR