Bürgerrechtler Eppelmann zur Opposition in der DDR

Mit Blues gegen das Regime

Weil er unbequem wurde, steckte ihn die DDR ins Gefängnis. Doch Pfarrer Rainer Eppelmann ließ sich nicht unterkriegen. Mit sogenannten Blues-Gottesdiensten kämpfte er bis zur Grenzöffnung gegen das Regime. Im Interview blickt er zurück.

Saxofonspieler in Nebelschwaden eingehüllt / © Geoff Goldswain  (shutterstock)
Saxofonspieler in Nebelschwaden eingehüllt / © Geoff Goldswain ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie waren schon früh auf Oppositionskurs. Als Jugendlicher wollten Sie nicht in die FDJ, später haben Sie den Dienst an der Waffe sowie das Gelöbnis verweigert. Das brachte Ihnen acht Monate Haft ein. Woher kam Ihre Entschlossenheit in so jungen Jahren?

Rainer Eppelmann (DDR-Bürgerrechtler, evangelischer Pfarrer, Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes): Es war eine Erkenntnis. Ich habe acht Jahre Haft bekommen, weil ich auf dem Hintergrund der leidvollen beruflichen Biografie meines Vaters – der erst SS-Scharführer und später Kraftfahrer im KZ Buchenwald war – meine Lehren zog. Auf meine kritische Frage, wie er so etwas machen konnte, hatte mein Vater geantwortet, dass er sonst erschossen worden wäre, weil er einen Eid geschworen hatte.

Daraufhin habe ich mir gesagt, dass ich einem Menschen, der von mir verlangt alles zu tun, was er sagt, nie einen Eid schwören werde – schon gar nicht, wenn ich dafür bestraft werde, wenn ich es nicht tue. In der Nationalen Volksarmee war es aber so: Man musste versprechen, das man alle Befehle ausführt. Das habe ich abgelehnt, und für diese Gewissensentscheidung ist man in der DDR-Diktatur für acht Monate eingesperrt worden.

DOMRADIO.DE: Sie haben erzählt, dass Sie mit Ihrem Vater über seine Vergangenheit gesprochen haben. Heißt das, sie wurde in Ihrer Familie nicht totgeschwiegen?

Eppelmann: Mein Vater hat nicht freiwillig angefangen zu erzählen, ich habe ihn gefragt. Und zunächst hat er auch keine Antwort gegeben. Aber als er nicht mehr anders konnte, weil der heranwachsende Sohn immer mehr drängelte, hat er mal etwas erzählt. Ich konnte ihn verstehen, aber es hat mich gelehrt: In eine solche Situation wirst du nie kommen. Das habe ich bis heute versucht, auch einzuhalten.

DOMRADIO.DE: Ihnen sind viele Karrierewege frühzeitig versperrt worden. Sie haben sich dann entschieden, Pfarrer zu werden – obwohl Ihre Familie nicht übermäßig christlich war und Sie selbst kein großer Kirchgänger waren. Wieso?

Eppelmann: Na, es stimmt nicht, dass ich kein Kirchgänger war. Ich war engagiert in der evangelischen Gemeinde, ich war da sogar ehrenamtlicher Mitarbeiter und habe als junger Mann um die 20 Jahre ehrenamtlich die Junge Gemeinde in Berlin-Hohenschönhausen geleitet. Den Dienst an der Waffe habe ich dann auch aus religiösen Gründen verweigert. Ich bin Bausoldat geworden. Mit dieser Möglichkeit in der DDR war man Soldat ohne Waffe, aber kaserniert und mit Uniform. Viele, denen ich da begegnet bin, haben so wie ich aus religiösen Gründen den Dienst an der Waffe verweigert.

Als ich Mitte der 60er-Jahre nach Hause kam, war klar, dass die Hoffnung meiner Eltern – die Mauer würde sich nicht lange halten, weil die DDR sich es nicht leisten könne und der Westen es sich nicht gefallen lasse – nicht der Realität entsprach. So musste ich mich als Mitte 20-Jähriger fragen, was ich mein weiteres Leben in diesem eingesperrten Land machen will. Und das einzige, was mir einfiel – in der Hoffnung, glücklich und zufrieden zu werden – war die Theologie. Ich hatte das Glück, dass durch den Bau der Mauer keine westdeutschen Priester oder Pfarrer in die DDR kamen, um freie Stellen zu besetzen, wie es zuvor geschah. Die kamen nicht mehr, weil sie dafür die DDR-Staatsbürgerschaft hätten annehmen müssen und damit freiwillig unfrei gelebt hätten.

Da aber keiner mehr kam, musste sich die Kirche etwas überlegen. Sie hat dann zwei theologische Fachschulen eingerichtet – in Erfurt und in Berlin. Die in Berlin habe ich besucht. Im Vollzug habe ich dann sehr schnell festgestellt, dass ich einen Beruf gewählt habe, von dem ich vorher nur ungenaue Vorstellungen hatte. Aber der zweite Gedanke war: Das ist genau der Beruf, den du brauchst.

DOMRADIO.DE: Sie waren in den 70er Jahren Pfarrer in der Ost-Berliner Samariter Kirchengemeinde sowie Kreisjugendamtspfarrer. Als solcher haben Sie ab 1979 sogenannte Blues-Messen veranstaltet. Diese gelten heute als legendär. Was war damals neu? Und warum haben sich Honecker und Konsorten so darüber geärgert?

Eppelmann: Na ja, es waren Jugendgottesdienste, die ganz anders waren. Das heißt, es gab im Grunde keine festgelegte Liturgie. Die Jugendlichen, die kamen, hörten einen biblischen Text und eine Auslegung; es gab eine Begrüßung am Anfang und ein Segenswort am Schluss. Und dazwischen war Musik, und diese Musik war keine aus dem kirchlichen Gesangbuch, sondern es war Blues. Es kamen viele Jugendliche, bestimmt 90 Prozent von denen hatten überhaupt nichts mit Kirche zu tun gehabt. Sie kamen vor allem, weil sie den Blues so schön fanden. Und dann wurden es immer mehr. Beim ersten Gottesdienst waren es noch 150, beim zweiten 300, dann 600. Es verdoppelte sich quasi jedes Mal und beim 20.Gottesdienst kamen dann insgesamt bis zu 8.000 Jugendliche aus der ganzen DDR.

Wir haben dann gedacht: Das ist eine Chance! Denen sollten wir nicht wie es Kirchenleute gewohnt sind von Gott und Jesus erzählen, sondern auf eine Art und Weise, die sie anspricht - damit sie nicht nur wegen der Blues-Musik zu uns kommen und unsere Gebete und Predigten brav über sich ergehen lassen. Und dann haben wir Folgendes gemacht: Wir haben keine biblischen Texte zum Thema des Gottesdienstes gemacht, sondern die Probleme, Fragen, Hoffnungen, Träume und Wut der Jugendlichen, die sie mit uns teilten, in Szenen nachgestellt. Wenn ich das richtig sehe, dann haben wir damit die erste große öffentliche Veranstaltung in der DDR gemacht, in der öffentlich ausgesprochen wurde, was viele dachten, sich aber nicht trauten, öffentlich zu sagen. Es war ein Akt der Befreiung.

DOMRADIO.DE: Ging das denn gut?

Eppelmann: In der Kirche ging es gut. Es kamen ja immer mehr. Es war fantastisch und hat viel Spaß gemacht, es hat aber auch viel Kraft gekostet. Denn der Ärger, den wir mit staatlichen Stellen und auch mit unserer eigenen kirchlichen Leitung hatten, war erheblich. Die einen sagten: "Das ist kein Gottesdienst, das ist ein Angriff gegen die DDR. Das dürft ihr nicht machen". Die Kirche hatte Sorge um ihre diplomatischen Bemühungen in der DDR, die ja im Grunde antireligiös war. Sie hat zum Glück immer einen Kompromiss gefunden, ohne uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen und die Blues-Messen, obwohl sie umstritten waren, bis zuletzt verteidigt, sodass wir sieüber mehrere Jahre fortgesetzt haben.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die offizielle evangelische Kirche hat hinter Ihnen gestanden?

Eppelmann: In entscheidenden Fragen hat sie hinter uns gestanden, ja. Als der Berliner Generalsuperintendent aufgefordert wurde, die Gottesdienste zu verbieten, sagte er: "Das mache ich nicht. Ich komme Ihnen soweit entgegen, dass ich sage, es ist ein Gottesdienst, zu dem ich nicht freiwillig gehen würde, weil er mir viel zu laut ist. Aber ich gehe hin, weil ich weiß, ich muss mich hinterher mit ihnen darüber unterhalten. Ich bin der Meinung, dass es Gottesdienste sind. Und ich bin nicht so unanständig, einen Gottesdienst zu verbieten. Dieses schmutzige Handwerk müssen Sie dann schon selber übernehmen." Das haben Sie aber nicht getan.

DOMRADIO.DE: Sie haben keine Gelegenheit verpasst, die SED zu "ärgern", sage ich mal. Im Januar 82 haben Sie mit Robert Havemann den Berliner Appell veröffentlicht, in dem Sie auch zur Abrüstung aufgerufen haben. Danach galten Sie quasi als Staatsfeind Nummer eins. Sie wurden von der Stasi überwacht, zwischenzeitlich wurden Mordanschläge auf Sie geplant und Sie sind wieder verhaftet worden. Hatten Sie eigentlich Angst bei Ihren Aktionen?

Eppelmann: Natürlich hatte ich auch Angst. Zum Glück hatte ich das, weil ich sonst möglicherweise nicht überlegt hätte, ob ich dieses oder jenes tun soll. Es hat Aktionen gegeben, die ich nicht gemacht habe, weil ich mich davor gefragt habe: Welche Strafe könntest du schlimmstenfalls kriegen? Ich war darauf eingerichtet, für meine Überzeugungen und meinen Glauben in den Knast zu gehen. Aber ich habe mich schon immer vorher gefragt, ob es lebenslang sein würde oder nur ein paar Monate. Und wenn mir die Strafe, die ich einkalkulierte, zu hoch erschien, habe ich es nicht gemacht.

DOMRADIO.DE: Was bedeutet Ihnen dieser 30. Jahrestag des Mauerfalls, der ja eigentlich eine Maueröffnung war?

Eppelmann: Er war eine Maueröffnung durch die Berliner, die nach den Sätzen von Günter Schabowski gesagt haben: Das wollen wir sehen. Es war ja von der DDR so nicht geplant gewesen. Es waren ja noch keine Anträge vorbereitet und soweiter. Aber nun standen auf einmal die Menschen an der Grenze und es wurden immer mehr. Ich selber stand in der Bornholmer Straße. Als ich mit einem Kollegen und Freund hinkam, war der Schlagbaum noch unten. Als wir drei Stunden später wieder gingen, war er offen. Aber nur, weil eine vier Kilometer lange Schlange von Leuten forderte: Es wurde gesagt, wir dürfen rüber. Jetzt macht auf!

Die Grenzsoldaten hatten keine Ahnung, was sie machen sollten. Ihre Vorgesetzten waren genauso ahnungslos. Die hatten ja nie etwas anderes gehört als den Auftrag, die Staatsgrenzen der DDR zu schützen. Dann hörten sie aus dem Politbüro auf einmal, ab sofort gilt etwas anderes. Und da haben Sie in Ihrer Hilflosigkeit und unter dem Druck der zehntausenden Berliner, die an den Grenzübergängen standen, den Schlagbaum geöffnet. Hinter haben sie dann nochmal ernsthaft überlegt, die Grenze wieder zuzumachen, das haben sie sich aber nicht mehr geleistet.

Das war ein Durchbruch. Wir sind an dem Abend nicht mehr rüber in den Westen, aber wir haben gesehen, wie sich Menschen glücklich in die Arme fielen und immer wieder "Wahnsinn, Wahnsinn!" riefen. Und als mein Freund und ich wieder zurückgingen, da war mir klar: Die Mauer ist weg, jetzt wird mein Leben völlig anders verlaufen, als es seit dem 13. August 1961 verlaufen ist. Und genauso ist es auch gewesen. Ich bin ja am 13. August 1961 praktisch eingesperrt worden. Ich durfte in West-Berlin nicht weiter zur Schule gehen, ich habe durch den Mauerbau meinen Vater und meine Schule verloren.

DOMRADIO.DE: Sind das alles Gedanken, die in diesen Tagen wieder hochkommen? Oder haben Sie die sowieso jeden Tag bei sich?

Eppelmann: Nein, nicht jeden Tag, das wäre vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich bin ja seit 1998 ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender, der vom Deutschen Bundestag eingesetzten "Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur". Und ich war in den letzten 15 Jahren in hunderten deutschen Schulen und habe vom Leben in der DDR-Diktatur und vom Leben in einer Demokratie erzählt. Die Schüler kennen ja Gott sei Dank nur Demokratie, und ich versuche, ihnen deutlich zu machen: Passt auf, dass Demokratie auch Demokratie bleibt. Da müsst ihr euch einmischen. Wir hatten schon einmal eine Demokratie und dann haben meine Vorfahren dummerweise ihren späteren Henker selbst gewählt und damit das ganze deutsche Volk in ein fürchterliches Unglück gestürzt.

Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier(r) verleiht das Bundesverdienstkreuz an Rainer Eppelmann / © Wolfgang Kumm (dpa)
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier(r) verleiht das Bundesverdienstkreuz an Rainer Eppelmann / © Wolfgang Kumm ( dpa )
Quelle:
DR
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