Woher kommt der Mut zu den Protesten in Hongkong?

Sorge um den Sonderstatus

Der Regen und eine bedrohliche Lage haben über eine Million Menschen in Hongkong nicht daran gehindert, wieder auf die Straße zu gehen. Sie demonstrieren für Demokratie und Freiheit gegen die chinesische Regierung. Woher kommt der Mut?

Proteste in Hongkong / © Kim Hong-Ji (Reuters)
Proteste in Hongkong / © Kim Hong-Ji ( Reuters )

DOMRADIO.DE: Woher nehmen so viele Menschen in Hongkong, die dort leben, den Mut, trotz der chinesischen Militärpräsenz, vor den Toren ihrer Stadt auf die Straße zu gehen?

Prof. Dr. Karl Pilny (Wirtschaftsanwalt, Autor und Asienexperte): Sie wissen, dass es um etwas ganz Entscheidendes geht. Schon lange nicht mehr nur um dieses Auslieferungsgesetz, das noch im Juni im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Nein, es geht eigentlich um nicht mehr und nicht weniger als um diesen Sonderstatus von Hongkong.

Wir erinnern uns: Am 1. Juli 1997 ist Hongkong von den Briten an China zurückgegeben worden. Und es wurde für 50 Jahre ein Sonderstatus vereinbart, Schlagwort: ein Land - zwei Systeme. Damit sind auch Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit Hongkong zugesichert worden. Man kann das nur so interpretieren, dass immer mehr Menschen dort diese Rechte in Gefahr sehen. Sie tragen die Sorge, dass der Sonderstatus nicht mehr 50 Jahre lang so bleiben wird bis 2047, sondern dass schon deutlich früher eine Annäherung an die Verhältnisse in der Volksrepublik China selbst erfolgen könnte.

DOMRADIO.DE: Das heißt, es geht um sehr viel für die Menschen in Hongkong?

Pilny: Das ist absolut richtig. Man muss auch im Auge behalten, dass Hongkong für die Volksrepublik China als Schaufenster wichtig ist. Es ist das Tor zur Außenwelt, aber es ist zugleich aus chinesischer Sicht auch das Einfallstor, wo durch diesen Sonderstatus und durch die doch sehr große Präsenz von westlichen Geschäftsleuten und Anwälten gewisse Einflüsse ins Land kommen. Hongkong hat eine ambivalente Bedeutung, eine janusköpfige Struktur sozusagen, aus Sicht der Zentralregierung in China.

DOMRADIO.DE: Es hat diesmal keine gewaltsamen Auseinandersetzungen gegeben. Was heißt das?

Pilny: Das heißt nur, dass die obersten Führungsorgane weiterhin zur Besonnenheit neigen. Ganz wichtig in dem Zusammenhang ist der 1. Oktober. Das wird der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China sein. Am 1. Oktober 1949 wurde sie gegründet, und das Letzte, was die Machthaber wollen, sind hässliche Bilder von gewaltsamen Szenen - also quasi eine Neuauflage der Vorgänge im Jahr 1989 am Tian'anmen-Platz (Dort wurden damals die Proteste gewaltsam niedergeschlagen, Anm. d. Red.).

Deswegen glaube ich persönlich, dass zumindest bis zum 1. Oktober der Ball sehr flach gehalten wird. Allerdings muss man immer im Hinterkopf behalten, dass auch unvorhergesehene Dinge passieren können: Unfälle, Attentate oder dergleichen. Aber wenn das nicht der Fall sein wird, dann glaube ich, wird trotz des Aufmarsches der Truppen in Shenzhen versucht werden, den Konflikt maßvoll zu lösen. Irgendwann gibt es aber natürlich auch einen Punkt, wo das kippen kann, weil die Regierung dann ihr Gesicht verlieren könnte. Und das darf und möchte sie auch auf keinen Fall zulassen.

DOMRADIO.DE: Wir warten also auf den 1. Oktober. Wie beurteilen Sie diese doch etwas überraschende Forderung von US-Präsident Donald Trump an die chinesische Führung, der mahnt, doch menschlich zu reagieren?

Pilny: Wir kennen ja Trump mittlerweile. Er ist ein mit allen Wassern gewaschener "streetsmarter deal-maker", der über große Erfahrung im Immobilienbereich verfügt und der ja durchaus auch in der Lage ist, festgefahrene Situationen in Bewegung zu bringen. Man denke nur an Nordkorea und wie er mit Kim Jong-un umgeht. Man muss das auch so sehen, dass vor dem Hintergrund dieser Eskalation in Hongkong natürlich auch der Handelskonflikt mit den USA weitergeht. Und auch da ist natürlich alles, was die Stellung oder auch die Reputation der Volksrepublik China schwächt, gut für Trump. Für ihn ist es jetzt eigentlich eine Steilvorlage, sich ein bisschen als Gutmensch positionieren zu können.

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns mal auf die Situation der Christen in Hongkong kommen. Spüren die auch was von diesem Druck aus China?

Pilny: Ja und nein. Es ist grundsätzlich so, dass in der Volksrepublik China die Schraube im Inneren ein bisschen straffer gezogen wird. Das betrifft auch Linientreue und die Stellung von Religionsgemeinschaften. Nun ist es natürlich so, dass in Hongkong überproportional viele Christen leben im Vergleich zum Rest Chinas, die auch aufgrund dieses gesetzlich zugesicherten Sonderstatus' selbstbewusster auftreten als Christen in der Volksrepublik China zum Beispiel.

Ich glaube nicht, dass momentan massiv gegen Christen oder christliche Glaubensgemeinschaften vorgegangen wird. Im ganzen Land sind sie aber ein bisschen unter Beobachtung. Das ist auch ein schönes Schlagwort, denn ich habe in meinem aktuellen Buch "Asia 2030: Was der globalen Wirtschaft blüht" ausführlich über die Gefahren und Ausmaße des Überwachungsstaates in China gesprochen. Ich habe das Schlagwort vom digitalen Maoismus gewählt, denn die Fortschritte in der Gesichtserkennung, 400 Millionen Überwachungskameras und so weiter sind unglaublich groß und rapide vonstatten gegangen.

Das könnte für Gruppen wie zum Beispiel Religionsgemeinschaften eine sehr brisante Mischung darstellen, wenn sie dann unter Beobachtung geraten. Auch dagegen, glaube ich, wenden sich die Demonstranten. So eine Art diffuse Technik-Skepsis kombiniert mit konkreten Anhaltspunkten.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR