30. Jahrestag des "Paneuropäischen Picknicks"

Merkel, Orbán und die Suche nach dem gemeinsamen Nenner

Vor 30 Jahren begann der Eiserne Vorhang zu wackeln: Den Jahrestag des "Paneuropäischen Picknicks" haben Kanzlerin Merkel und Ungarns Premier Orbán mit einem ökumenischen Gottesdienst begangen. Ein Treffen mit Beigeschmack?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eine Ansprache in der Evangelischen Kirche von Sopron / © Guido Bergmann/Bundesregierung (dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eine Ansprache in der Evangelischen Kirche von Sopron / © Guido Bergmann/Bundesregierung ( dpa )

DOMRADIO.DE: Es war so etwas wie der letzte Sargnagel der DDR – das sogenannte "Paneuropäische Picknick" in Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze. Aktivisten um den CSU-Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg wollten damals ein Fest für die Freiheit feiern und symbolisch den Zaun abbauen. DDR-Bürger bekamen das mit – am Ende gelang es über 600 von ihnen, ungehindert in den Westen "rüber zu machen". Am 19. August 1989 war das – und am 30. Jahrestag haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ungarns Premier Viktor Orbán an diesem Morgen in Sopron an einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Lutherischen Kirche teilgenommen. In welcher Atmosphäre fand der statt?

Klaus Prömpers (Journalist): Im Mittelpunkt des Gottesdienstes stand der Dank an die Ungarn und Österreicher von damals, die Generation derjenigen, die damals die Flucht von mehr als 600 DDR-Bürgern möglich gemacht hat. Insbesondere beispielsweise der Oberstleutnant der ungarischen Grenztruppen, Árpád Bella, der seinen Leuten damals verboten hatte von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Auffällig war beim Gottesdienst, dass angesichts des Wegfallens des Eisernen Vorhangs mehrere Geistliche die Freiheit in Verantwortung betonten, "die uns durch den Fall der Mauer geschenkt worden ist." Freiheit in christlicher Verantwortung – das scheint ein neues Synonym für das zu werden, was Orbán bisher immer illiberale Demokratie bezeichnet hat. Das kommt als Begriff bei uns im Westen aber schlecht an. Eigenartig wirkte auf mich ein Satz des Budapester Kardinals Erdő: "Das Christentum hat Nein zu dem Prinzip gesagt, nachdem nur die menschliche Macht entscheidet, was richtig und was falsch ist."

In Fürbitten von Jugendlichen des deutsch-ungarischen Jugendwerks ging es sehr konkret um Bitten, dass der Traum von der Freiheit am Leben erhalten werde und die Sehnsucht aller Menschen nach Frieden und Sicherheit gestillt werde. Denn auch heute gebe es wieder Flucht und Flüchtlinge.

DOMRADIO.DE: Dass Merkel und Orbán tief zerstritten sind – unter anderem über die Flüchtlingsfrage, ist ja kein Geheimnis. Wie weit ist das denn auch thematisiert worden?

Prömpers: Mit Rücksicht auf die Feiertage des 30. Jahrestages und den staatlichen und kirchlichen Feiertag des Heiligen Stephans, des Gründers des östlichen Ungarns, wurde das alles heruntergespielt. Dennoch kann man aus manchen Äußerungen von Angela Merkel und Viktor Orbán erkennen, dass die Unterschiede fortbestehen. Angela Merkel sagte beispielsweise, Europa kann nur so stark sein, wie es geeint ist und wie wir fähig zum Kompromiss sind. "Das europäische Friedensprojekt ist kein Selbstläufer. Wir müssen auch fähig sein, über den eigenen Schatten zu springen." Sie konkretisierte noch: Wenn es um Menschen geht, die Zuflucht vor Krieg und Krise suchen, da müssen wir handeln.

Orbán überwölbte das sozusagen mit einem Bekenntnis zu Europa, was angesichts der realen Verhältnisse in dem Lande – eingeschränkte Medienfreiheit, eingeschränkte Justizfreiheit, Abbau von Rechten der wissenschaftlichen Universitäten – im Widerspruch zu dem steht, was wir in Deutschland unter einer normalen Demokratie verstehen. Er wurde von einem Journalisten darauf angesprochen und sagte dann: "Kommen Sie doch nach Ungarn, sehen Sie sich das Land an. Wir sind eben anders."

DOMRADIO.DE: Unterm Strich: War das Gedenken heute eine würdige Veranstaltung? Oder haben die aktuellen Zwistigkeiten zwischen Orbán und Merkel und der EU Schatten geworfen?

Prömpers: Die haben schon in unterschiedlichen Nuancen Schatten geworfen. Es gab dann auch ein bilaterales Gespräch der deutschen und der ungarischen Delegationen, wo eine verstärkte Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Bereich verabredet wurde.

Aber das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Orbán eine ganz andere Vorstellung von Demokratie hat, nämlich die der illiberalen Demokratie, was die Einschränkung der Medien beinhaltet. Die Medien sind ja hier nahezu gleichgeschaltet. Fast alle Medien gehören Freunden von Viktor Orbán und verhalten sich entsprechend. Es gibt nur noch ganz wenige Möglichkeiten für eine demokratische Opposition.

Der Akademie der Wissenschaften ist der Teppich unter dem Boden weggezogen worden durch den Entzug von zwei Dritteln ihrer Mittel. Das ist alles ins Wirtschaftsministerium geflossen, sodass Viktor Orbán jetzt bestimmen kann, was läuft. Er ist der große Zampano. Das können wir uns in Deutschland so gar nicht vorstellen mit unserer Koalition.

Das Interview führte Andreas Lange.


Klaus Prömpers (privat)
Klaus Prömpers / ( privat )

Viktor Orban und Angela Merkel sitzen zusammen mit Delegierten an einer Tafel / © Balazs Szecsodi (dpa)
Viktor Orban und Angela Merkel sitzen zusammen mit Delegierten an einer Tafel / © Balazs Szecsodi ( dpa )
Quelle:
DR