Türkei geht gegen illegale Flüchtlinge aus Syrien vor

Hunderttausende sollen Istanbul verlassen

Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei aufgenommen. Im Großen und Ganzen verlief das Zusammenleben mit den Neuankömmlingen weitgehend friedlich. Doch das beginnt sich zu ändern.

Autor/in:
Philipp Mattheis
Flüchtlingslager in der Türkei / © quetions 123 (shutterstock)
Flüchtlingslager in der Türkei / © quetions 123 ( shutterstock )

Für die syrischen Flüchtlinge in Istanbul wird das Leben zunehmend schwierig. Nur bis 20. August haben syrische Flüchtlinge in Istanbul, die nicht in der Stadt registriert sind, Zeit bekommen, die 16-Millionen-Metropole zu verlassen. Das teilte das Gouverneursamt von Istanbul zu Wochenbeginn mit. Schon in den Tagen zuvor gab es Razzien, bei denen rund 600 Flüchtlinge verhaftet wurden.

3,6 Millionen Flüchtlinge hat die Türkei seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 aufgenommen. Zwar gab es immer wieder lokale Zwischenfälle, etwa Proteste der lokalen Bevölkerung gegen gestiegene Mieten oder sinkende Löhne; im Großen und Ganzen aber verlief das Zusammenleben mit den Neuankömmlingen weitgehend friedlich.

Gerüchte und Wahlkampf

Doch das beginnt sich nun zu ändern. Am 29. Juni zog beispielsweise ein Mob von rund 60 Männern durch den Istanbuler Stadtteil Kücükcekmece und bewarf syrische Geschäfte mit Steinen. Anlass war ein Gerücht, wonach sich ein Syrer an einem türkischen Mädchen vergangen habe. Es erwies sich später als falsch.

Auch der Wahlkampf um das Istanbuler Bürgermeisteramt war vom Flüchtlingsthema mitgeprägt. Säkulare und nationalistische Wählerschichten befürchten durch die syrischen Flüchtlinge eine zunehmende Islamisierung. Der letztlich siegreiche Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu kündigte im Wahlkampf an, ein spezielles Amt für Flüchtlinge schaffen zu wollen. Seit Ende Juni im Amt, kündigte er vor einigen Tagen an, Schilder mit arabischen Schriftzeichen durch türkische zu ersetzen.

Anhaltende Wirtschaftskrise

Die Einführung des lateinischen Alphabets ist ein Erbe von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) und gilt vielen Türken daher als sakrosankt. Die religiöseren Syrer könnten später, so die Befürchtung vieler säkularer Türken, das türkische Wahlrecht erhalten und damit neue Stimmen für die AKP bringen.

Der eigentliche Grund für die zunehmend antisyrische Stimmung im Land aber dürfte die anhaltende Wirtschaftskrise sein. Umfragen zufolge sind die wirtschaftlichen Probleme und die Syrer derzeit die größten Sorgen der Türken. Im April lag die Arbeitslosenquote beim Rekordhoch von 15 Prozent. Die zusätzlichen Arbeitskräfte verschärfen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.

Zahlen und Dunkelziffer

Zwar gilt in der Türkei ein gesetzlicher Mindestlohn. Der wird aber häufig von türkischen Unternehmen und syrischen Arbeitskräften umgangen. Viele der Flüchtlinge finden keine Arbeit in der Provinz, in der sie registriert sind. Deswegen zieht es sie in die großen Städte des Landes, wo sie dann illegal beschäftigt werden. In Istanbul leben offiziell rund 500.000 Flüchtlinge aus Syrien; die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher sein. Schätzungen gehen von 850.000 aus. Diese sollen nun in den kommenden Wochen die Millionenstadt am Bosporus verlassen.

Insgesamt leben in der Türkei rund 4 Millionen Flüchtlinge, gut 3,6 Millionen davon aus Syrien. Sie genießen offiziell "Gaststatus" und haben damit auch eine Arbeitserlaubnis. Seit 2015 aber ist die Grenze zum Nachbarland geschlossen; seit 2017 werden offiziell auch keine Flüchtlinge mehr als solche registriert.

Sorgen bereitet vielen Türken auch die Zahl der neu geborenen Kinder. Rund 400.000 syrische Kinder wurden in den vergangenen Jahren in der Türkei geboren. Sie gelten offiziell als staatenlos. Trotz Bemühungen der türkischen Regierung fehlt vielen eine Schulbildung. Die Nöte der Flüchtlinge in Istanbul sind dringlich geworden. Für kommenden Sonntag haben Menschenrechtsgruppen und Aktivisten zu einer Solidaritätsdemo aufgerufen.


Quelle:
KNA