Eindrücke und Reaktionen nach der Wahl

"Hoffen auf Veränderung"

Ein Sieg der Demokratie und der Hoffnung, so nennt die Türkei-Expertin Marion Sendker den Wahlerfolg des oppositionellen CHP-Politikers Ekrem Imamoglu. Er setzte sich bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul gegen den AKP-Kandidaten durch. 

Anhänger des Oppositionskandidaten Imamoglu jubeln über dessen Wahlsieg / © Lefteris Piarakis (dpa)
Anhänger des Oppositionskandidaten Imamoglu jubeln über dessen Wahlsieg / © Lefteris Piarakis ( dpa )

DOMRADIO:DE: Wie haben Sie den gestrigen Wahlabend und die folgende Nacht erlebt?

Marion Sendker (Journalistin und Türkei-Expertin): Das war ganz beeindruckend: Es gibt ja seit Monaten so gut wie keine öffentlichen Kundgebungen oder Demonstrationen mehr. Alle halten sich zurück, halten den Mund aus Angst vor Polizeigewalt oder vorm Gefängnis. Nicht so in der letzten Nacht, da ist ein Knoten geplatzt: Viele Istanbuler haben den Wahlabend draußen verbracht: Die Restaurants haben auf Leinwänden die Wahlsendungen übertragen. Es war ein Public-Viewing, wie man es sonst nur von großen Fußball-Spielen kennt.

Als dann das vorläufige Ergebnis bekannt wurde, war die Euphorie groß: Man hat Jubelschreie gehört und Gesänge – und als dann der alte und jetzt im Amt bestätigte Oberbürgermeister Imamoglu sprach, wurde es wieder ganz still. Alle haben ganz genau zugehört. Danach gab es überall in der Stadt Autocorsos, die Menschen haben gesungen, auf den Straßen getanzt, lagen sich in den Armen, sind vor Freude und Erleichterung völlig ausgerastet. Die haben bis spät in die Nacht gefeiert – auch wenn an diesem Montag ein ganz normaler Arbeitstag ist. Eine Riesen-Welle der Erleichterung und der Freude ist durch die Stadt gegangen, denn die Leute haben gesehen: Es geht, die Demokratie lebt, wenn man zusammenhält. Wenn sich alle anstrengen, dann können Wahlen in der Türkei eine Bedeutung haben. Dann kann man gemeinsam auch etwas verändern.

DOMRADIO:DE: Hatten Sie Gelegenheit, mit einzelnen Feiernden zu sprechen? Was sagen die?

Sendker: Im Mittelpunkt stand natürlich der neue Oberbürgermeister Imamoglu. Viele haben mir gesagt, dass mit ihm jetzt alles endlich gut wird. Das war ja auch sein Wahlslogan: "Hey sey güzel olacak" - also: "Alles wird sehr schön werden". Vor allem junge Menschen waren auf den Straßen. Die freuen sich jetzt, weil sie sagen, dass sie wieder eine Perspektive in der Türkei sehen. Immerhin ist jeder vierte junge Mensch ohne Job. Das Land steckt in einer großen Wirtschaftskrise. Viele haben mir gesagt, dass sie nicht einmal mehr wissen, wie sie ihr Essen bezahlen sollen, während sich die Regierung ihrer Meinung nach die Taschen voll mache und in Saus und Braus lebe.

Da hoffen die Menschen jetzt, dass sich das ändert, dass auch die Vetternwirtschaft vorbei sein wird. Spannend ist auch, dass viele Imamoglu als Held bezeichnen, ihm vertrauen und ihn lieben, auch wenn er nicht alle Versprechen halten wird und er nicht alle Probleme lösen kann. Er wird also zum Teil wie ein Popstar – und wie vorher Erdogan – kritik- und kompromisslos verehrt. Außerdem haben mir manche erzählt, dass sie stolz sind, dass Wahlen doch noch funktionieren und dass sie damit die Ehre der Türkei auch international gerettet haben. Denn es ging ja nicht nur um den Posten des Oberbürgermeisters von Istanbul, sondern um die ganze Türkei: Auch aus dem Südosten haben Menschen bei Freunden von mir angerufen und den Istanbulern zum Machtwechsel gratuliert.

DOMRADIO.DE: Haben Sie auch Erdogan-Anhänger getroffen, die jetzt enttäuscht waren?

Sendker: Von denen sind kaum welche auf die Straße gegangen. Die wären auch im Jubeltaumel untergegangen. Bezeichnend war, dass zum Beispiel die Polizei, die sonst Feierlichkeiten oder Demonstrationen wie in dieser Nacht sofort im Keim erstickt, ruhig war. Polizisten standen am Rand, haben auf ihr Handy geguckt und sahen etwas gelangweilt aus. Der Staat hat die Feiernden also in Ruhe gelassen. Das ist sehr ungewöhnlich, zumal viele Jugendliche Parolen gebrüllt haben, für die man sonst in Polzeigewahrsam kommt. Darunter waren etwa Gezi-Protestrufe wie "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand". Und es waren viele nationale bis nationalistische Lieder zu hören wie der Izmir Marsch oder das italienische Partisanenlied "Ciao Bella Ciao".

DOMRADIO.DE: Viele hier in Deutschland hatten gar nicht mehr damit gerechnet, dass es da wirklich zu einer rechtmäßigen Wahl kommt. Wie haben das die Leute vor Ort wahrgenommen? Waren die jetzt regelrecht überrascht?

Sendker: Die Umfragen – selbst von regierungsnahen Instituten – haben einen Wahlsieg für die CHP vorausgesagt. Da ging es um drei bis acht Prozentpunkte. Dass es am Ende doch mehr als neun waren, hat viele gefreut, aber nicht so sehr verblüfft. Überraschend war mehr, dass die Wahlen friedlich liefen. Es gab keine Berichte von Manipulationen. Und dieses Mal ist niemand gestorben! Zumindest ist das der aktuelle Stand der Dinge. Normalerweise gibt es bei Wahlen in der Türkei jedes Mal Tote, auch bei den Kommunalwahlen im März.

DOMRADIO.DE: Wofür steht der Wahlsieger Imamoglu? Und wie ist er direkt nach Bekanntwerden seines Sieges aufgetreten?

Sendker: Imamoglu war vorher Bürgermeister eines Bezirks in Istanbul und hat da einen guten Job gemacht. Er gehört zur größten Oppositionspartei, der CHP. Das ist die älteste Partei in der Türkei. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat sie gegründet. Entsprechend wird die CHP als säkular und nach türkischem Verständnis sozialdemokratisch eingestuft. Manche sprechen auch von links-national und werfen der CHP vor, nicht besser zu sein als Erdogans AKP – nur eben ohne Islam. Deshalb ist auch Imamoglus Auftritt am Wahlabend so interessant gewesen: Er hat Erdogan und der AKP eine Art Kooperation angeboten. Er hat gesagt, dass man ja gemeinsam die Probleme lösen könne. Er steht für eine offene CHP, vielleicht sogar weniger nationalistisch. Er hat die Wahl ja unter anderem auch Dank der Kurden gewonnen. Die machen etwa 13 Prozent der Wählerstimmen aus. Sie haben mehrheitlich für ihn gestimmt, obwohl die CHP bislang nicht gerade als kurdenfreundlich galt.

DOMRADIO.DE: Und was sind die wichtigsten Wünsche seiner Wähler an Imamoglu, welche Herausforderungen kommen jetzt auf ihn zu?

Sendker: Die Menschen wollen wieder Arbeit haben, sie wollen wieder Geld für Essen, Kleider, Bildung usw. haben. Und sie wollen wieder frei ihre Meinung sagen oder in den sozialen Medien schreiben dürfen ohne dafür verhaftet zu werden, wie das bisher der Fall ist. Imamoglu hat auch viel versprochen: Er will Jobs schaffen, Kitas ausbauen usw. Aber das kostet alles Geld. Und die AKP-Regierung hat - wie Imamoglu selbst sagte - einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. Da wird er nun aufräumen müssen. Dann muss er gucken, wie er überhaupt regieren kann. Denn die meisten Stadtteil-Bürgermeister kommen von der AKP. Imamoglu hat im Stadtrat keine Mehrheit und Erdogan wird ihm sicher auch noch den ein oder anderen Stein in den Weg legen. Also einfach wird es nicht.

DOMRADIO.DE: Hat die Wahl auch eine Bedeutung für die Christen?

Sendker: Durchaus: Zwar wurde Istanbul 25 Jahre von islamisch-konservativen Parteien regiert, aber das war für die Christen hier nicht unbedingt schlecht: Viele sagen, dass dadurch, dass eine religiöse Partei an der Macht war, auch sie als religiöse Menschen verstanden und geachtet wurden. Man hat die Christen in Ruhe ihr Ding machen lassen. Am Sonntagmorgen wurde dann in der katholischen deutschsprachigen St. Georgs-Gemeinde in Istanbul auch für die Wahlen gebetet: Und zwar, dass derjenige gewinnen möge, der der Stadt Frieden bringt. Dort ging es also nicht notwendigerweise um einen Machtwechsel, sondern um Frieden und Stabilität. Und darauf hoffen sie jetzt auch bei der CHP. Wenn Imamoglu aber seine Versprechen aus dem Wahlkampf hält, dürfte die Position der Christen in Istanbul sich nicht verschlechtern.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Marion Sendker / © Burhan Akdag (DR)
Marion Sendker / © Burhan Akdag ( DR )
Quelle:
DR