Saul Friedländer: Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag

Opfern Namen und Stimme geben

Er wurde als jüdisches Kind im französischen Internat versteckt. Er wurde katholisch getauft. Dann wurde der Holocaust für Saul Friedländer zum Lebensthema. Jetzt hält er die Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag.

Autor/in:
Christoph Arens
Dem Deutschen Volke - und allen Menschen: Berliner Reichstag / © Maurizio Gambarini (dpa)
Dem Deutschen Volke - und allen Menschen: Berliner Reichstag / © Maurizio Gambarini ( dpa )

"Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben." Für den Historiker Saul Friedländer bedeutete die Erforschung des Holocaust mehr als eine Darstellung abstrakter Strukturen. "Wenn Sie die Tagebücher und Briefe der Opfer lesen, erkennen Sie deren Individualität, ihre Hoffnungen und Empfindungen."

Rede im Bundestag

Der Erinnerung Namen geben - das ist der Anspruch des in Los Angeles lebenden israelischen Historikers. Diesen Anspruch kann der 86-Jährige jetzt auch im Bundestag noch einmal einlösen: An diesem Donnerstag wird er die Gedenkrede zum Holocaust-Gedenktag halten und damit auch an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 74 Jahren erinnern.

"Ich wurde zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt - vier Monate vor Hitlers Machtergreifung - in Prag geboren", so beginnen seine Memoiren. Anders als Raul Hilberg, der Pionier der Erforschung der Vernichtungspolitik, hat Friedländer in seinem Standardwerk "Das Dritte Reich und die Juden", das 1998 und 2006 auf Deutsch erschienen ist, nicht nur den mörderischen Vernichtungsapparat geschildert, sondern auch die Schicksale der Menschen berücksichtigt.

Als einer der letzten Miterlebenden des Holocaust unter seinen Fachkollegen hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie objektiv er selber über das Thema forschen kann. "Wie oft habe ich gehört, Juden könnten als Opfer keine objektive Geschichte des Holocaust schreiben", hat er gesagt. Und den älteren deutschen Historikern vorgehalten, dass auch sie als ehemalige HJ- oder NSDAP-Mitglieder keineswegs objektiv darüber forschen könnten.

Getaufter Katholik

Als Kind deutschsprachiger Juden wurde Friedländer 1932 in Prag geboren. Während seine Eltern in Auschwitz ermordet wurden, überlebte er unter falschem Namen und als getaufter Katholik in einem Internat in Frankreich und wollte sogar Priester werden. "Ich wurde vollgestopft mit Religion, aber im Lauf meines Lebens wurde sie zur Nebensache", sagte er. "Das Ästhetische am Katholizismus ist mir geblieben, die Kirchenmusik, und noch wichtiger: ein Schuldgefühl."

1946 entschloss er sich auf Anraten eines Jesuiten, wieder Jude zu sein. "Ich bin schnell nacheinander Kommunist und dann Zionist geworden und 1948 aus meinem Pariser Gymnasium nach Israel geflüchtet", schildert er den weiteren Lebensweg. Als Politikwissenschaftler und Historiker unterrichtete der Vater dreier Kinder später in Genf, Tel Aviv und Los Angeles.

Es dauerte lange, bis er sich seiner Familiengeschichte stellte. Er sei auch Jahrzehnte später hoch traumatisiert gewesen und leide noch heute unter Depressionen, schrieb er 2016. Erst seine Kinder hätten ihm geholfen, seine Gefühle wiederzuentdecken. Auf den Holocaust kam er bei einem Studienaufenthalt im Bonner Archiv des Auswärtigen Amtes, wo "ich Dokumente über Papst Pius XII. gefunden habe".

Große Staatsfrömmigkeit

Im Streit über die wichtigsten Antriebskräfte für die Judenvernichtung hat Friedländer sich festgelegt: "Ich meine, dass nicht die Gesellschaft, sondern die Zentrale die treibende Kraft war, angefangen bei Hitler und seinen engsten Mitarbeitern", argumentiert er. Den Eliten in Deutschland, darunter auch den Kirchen, wirft der Historiker allerdings vor, der Radikalisierung der Judenpolitik keine Kräfte entgegengesetzt zu haben. Verantwortlich dafür macht er die große Staatsfrömmigkeit sowie einen traditionellen religiösen Antijudaismus.

Klare Worte findet der Historiker auch bei der Einordnung des Holocaust in die Politik der Nationalsozialisten. Nach seiner Ansicht war die "Lösung der Judenfrage" für sie zentral. Sie hätten es als "ein ständiges Mobilisierungsmotiv" gebraucht. Zwar habe es in den 30er Jahren auch bei Hitler noch keine endgültigen Pläne gegeben.

Spätestens Ende 1941, als der Russland-Feldzug ins Stocken geriet und Amerika in den Krieg eintrat, sei die Vernichtung der Juden aber mit äußerster Konsequenz vorangetrieben worden.

Für Friedländer ist klar, dass auch der Holocaust immer weiter historisiert wird. "Irgendwann wird man Bücher über das Dritte Reich und den Holocaust lesen wie heute Cäsars Gallischen Krieg", analysiert er. "So wird es kommen, da hilft nichts."

 

Saul Friedländer / © Antje Weser (dpa)
Saul Friedländer / © Antje Weser ( dpa )
Quelle:
KNA