SPD-Abgeordnete Griese über Kirche und Politik

"Anwalt der Armen und Entrechteten"

Kerstin Griese ist Bundestagsabgeordnete der SPD. Sie steckt mitten im Wahlkampf und ist bei den Sozialdemokraten auf Bundesebene für religiöse Themen zuständig. Im Interview äußert sie sich über die AfD, Kirche und die Politik.

Kerstin Griese mit Frank-Walter Steinmeier / © Bernd von Jutrczenka
Kerstin Griese mit Frank-Walter Steinmeier / © Bernd von Jutrczenka

domradio.de: Können Sie noch oder wird es Zeit, dass die Wahl kommt?

Kerstin Griese (Bundestagsabgeordnete der SPD): Ich kann noch. Wahlkampf ist schön, man kommt mit so vielen Menschen ins Gespräch, man ist viel an der frischen Luft. Das ist eine gute Sache.

domradio.de: Für die SPD ist es ja im wahrsten Sinne des Wortes Kampf, die Umfragen lassen Sie gerade gar nicht so gut dastehen…

Griese: Man darf sich von den Umfragen nicht fertig machen lassen. Gewählt wird am 24. September und viele Menschen sind noch unentschieden und deshalb geben wir alles.

domradio.de: Sie sind zuständig für die Religionsfragen bei der SPD. Immer wieder ist auch das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ein Thema. Bei einem der ganz großen Wahlkampfthemen, der Integration von Flüchtlingen, melden sich die Kirchen immer mal wieder, auch durchaus lautstark. Ist Ihnen das Recht?

Griese: Ich finde es gut, dass sich die Kirchen da einsetzen und engagieren. Eigentlich ist das ja die größte soziale Bewegung in Deutschland derzeit: viele Menschen, die sich für die Integration der Flüchtlinge engagieren, die ihre Herzen geöffnet haben, ihre Küchen, ihre Wohnzimmer, ihre Kleiderschränke für die Menschen, die hierher geflohen sind. Ich betone das oft in der Politik und ich will das auch jetzt nochmal sagen: Wir sind unglaublich dankbar dafür, dass so viele Menschen sich engagieren. Man kann, glaube ich, sagen, dass in jeder Kirchengemeinde in Deutschland Ehrenamtliche sich für Flüchtlinge engagieren und das ist gut so. Ohne dieses Engagement würde die Integration nicht klappen.

domradio.de: Die Kirchen verstehen das in gewissem Sinne als Chance. In den vergangenen Jahren war das große Thema, dass es weniger und weniger Menschen in den Kirchen werden. Auf einmal hat man ein bisschen Auftrieb.

Griese: Ich sehe es eher als Zeichen der Nächstenliebe. Das ist gelebte christliche Nächstenliebe und die Kirchen tun das sicherlich und besonders die Menschen, die in ihr engagiert sind, weil sie sehen, dass die Menschen vor Terror und Gewalt geflohen sind und weil sie diese Nächstenliebe ganz praktisch im Alltag leben.

domradio.de: Sie sind für den religionspolitischen Dialog zuständig. Da gehören nicht nur die christlichen Kirchen dazu. Wie erleben Sie den interreligiösen Austausch mit den Flüchtlingen?

Griese: Das ist ganz interessant, dass jetzt seit einigen Jahren überhaupt die Religion der Flüchtlinge eine Rolle spielt. Das war bei vielen anderen Bewegungen nach Deutschland nicht so, weder in der so genannten Gastarbeiter-Generation noch bei den Balkan-Flüchtlingen hat man sich um die Religion gekümmert. Das liegt natürlich daran, dass Terroristen im Namen des Islam immer wieder Anschläge verüben und alle wohlmeinenden Muslime, die die größte Mehrheit sind, davon natürlich genauso schockiert sind wie wir Nichtmuslime, dass der Islam dafür instrumentalisiert wird. Aber deshalb ist es auch Thema. Und eigentlich sind die Kirchen erfahren im interreligiösen Dialog und können deshalb viel zur Integration beitragen, können auch dem Staat und der Politik helfen, tatsächlich offene Augen und Ohren zu haben und gut miteinander auszukommen.

domradio.de: Sie meinen, sonst wäre es egal, wenn es nicht diese Terroranschläge im Namen Allahs gäbe. Dann würde man nicht darüber sprechen, dass es viele Muslime sind, die kommen?

Griese: Es sind ja etwa zu zwei Dritteln Muslime, die kommen. Unter den Flüchtlingen sind aber auch koptische Christen und aramäische Christen, es wird ja auch eine größere Vielfalt des christlichen Lebens in Deutschland geben. Das muslimische Leben wird stärker arabisch geprägt sein und natürlich spielt das eine Rolle, weil auch Religionen sich ja kennenlernen müssen. Ich glaube, wir müssen mehr tun für religiöse Bildung und ich finde es wichtig, dass alle Kinder in der Schule Religions- oder Ethikunterricht haben. Je mehr man voneinander weiß, desto weniger Ängste hat man voreinander. Deshalb geht es darum, das gerade in der Schule schon zu beginnen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, bei uns im Ruhrgebiet wären die Schulklassen leer, wenn man nur christlichen Religionsunterricht anbieten würde. Deswegen ist es gut, dass auch Nordrhein-Westfalen mit jüdischem und islamischem Religionsunterricht begonnen hat.

domradio.de: Soziale Herausforderungen hat Deutschland eine ganze Menge vor der Brust. Gerade über die kirchlichen Vertreter und Verbände ist das ein großes Thema…

Griese: Ich erlebe, dass die Menschen mich im Wahlkampf sehr viel auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit ansprechen. Es geht sehr viel um die Frage, wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Es geht darum, haben wir morgen noch eine gute Rente? Das sind ganz wichtige Themen, die eine große Rolle spielen. Die evangelischen und katholischen Verbände und die Kirchen haben dazu ja auch Positionen, die sie ja auch der Politik immer wieder vortragen und das ist auch gut so. Ich finde es wichtig, dass die Themen aus dem Alltagsleben der Menschen wirklich auch in der Politik zur Sprache kommen. Bei so manchen Fernsehduellen habe ich mich gewundert, wie die Themenschwerpunkte waren. Wenn ich unterwegs bin in meinem Wahlkreis geht es um Fragen von Bildung, Schule, Kitas, von sicheren Arbeitsplätzen, von Ausbildung, Rente in der Zukunft, um Wohnen – das sind alles Fragen, die die Menschen interessieren. Wenn Kirche dazu auch engagiert ist, finde ich das gut, weil Kirche ja mitten im Alltag präsent sein soll.

domradio.de: Also, es darf auch ruhig mal eine politische Predigt von der Kanzel sein?

Griese: Es sollte, meines Erachtens, eine theologische Predigt sein. Wenn man theologisch spricht und handelt und wenn man Nächstenliebe und christliche Nachfolge leben will, dann hat das auch etwas damit zu tun, wie man sich in dieser Gesellschaft verhält und auf wessen Seite man sich stellt. Ich finde es gut, dass die Kirchen immer wieder als Anwalt der Schwachen aktiv sind und oft der Politik auf die Füße treten und sagen, ihr müsst mehr tun für Langzeitarbeitslose, für Flüchtlinge, für Obdachlose. Die Kirchen engagieren sich auch oft für Menschen, die sonst keine Lobby in der Politik haben. Das finde ich gut und richtig und ist eigentlich gelebte christliche Nächstenliebe. Deshalb ist es für mich weniger Politik machen als Politik möglich machen, wie es der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber es einmal genannt hat. Ich freue mich über alle engagierten Christinnen und Christen, die für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft sorgen und dafür auch ganz wichtig sind. Ohne dieses Engagement wären wir ärmer in Deutschland.

domradio.de: Sie kennen es auch ein bisschen aus der Innensicht der evangelischen Kirche. Gibt es für Sie eine Grenze, bis wohin die Kirche argumentieren darf in Richtung Politik?

Griese: Ich denke, dass Kirche nicht in diesem Sinne zur Wahl einer Partei aufrufen sollte, dass Kirche grundsätzliche Werte vermitteln kann und soll und auch mal ein deutliches Wort sagen muss. Ich finde es gut, dass gerade auch in der evangelischen Kirche, in der katholischen aber auch, sich sehr viel damit auseinandergesetzt wird, dass die AfD wirklich den Boden unserer demokratischen Grundordnung verlässt. Gerade wie der Spitzenkandidat jetzt gegen Menschen hetzt, da ist wirklich jedes Grundverständnis des Miteinanders verletzt worden. Ich finde es gut, wenn Kirchen dazu auch deutlich ihre Meinung sagen.

domradio.de: Auch wenn die Kirchen kritisch etwas gegen die Politik sagen? Bei dem Thema "Ehe für alle" war das ja der Fall…

Griese: Da gab es eine positive Stellungnahme aus der evangelischen Kirche und eine negative Stellungnahme aus der katholischen Kirche. Deshalb muss das auch jeder Abgeordnete für sich, nach seinem Gewissen, völlig frei entscheiden, bleibt auch frei darin und das kann unsere Demokratie gut aushalten. Ich finde aber die Stellungnahmen aus den Kirchen auch oft hilfreich. Mir helfen sie auch dabei, mich weiter in Grundsatzfragen zu orientieren. Gerade in der Flüchtlingspolitik fordern die Kirchen häufig mehr als die Politik leisten kann. Das ist verständlich und auch da sage ich, was sollen sie denn sonst machen? Sie sind nun mal Anwalt der Armen, der Entrechteten, das sollen sie auch sein. Diese Stimme fehlt viel zu oft und deshalb finde ich gut, dass sie das machen.

Das Interview führte Matthias Friebe.

Redaktion: Christian Schlegel


Quelle:
DR