Grünen-Politiker wünscht sich Respekt vor allen Religionen

Özdemir ist den Kirchen dankbar

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir bezeichnet sich als nicht-praktizierenden Muslim. Er versucht seinen Kindern mit seiner katholischen Frau Respekt vor allen Religionen beizubringen. Außerdem plädiert er für einen Neustart der Islamkonferenz.

Autor/in:
Christoph Scholz
Özdemir kritisiert die geforderte "islamische Verfassung" für die Türkei / © Michael Kappeler (dpa)
Özdemir kritisiert die geforderte "islamische Verfassung" für die Türkei / © Michael Kappeler ( dpa )

KNA: Nachdem nun die "Ehe für alle" beschlossen wurde, gibt es zwischen den Parteien im Bundestag familienpolitisch kaum noch Unterschiede. Was zeichnet speziell grüne Familienpolitik aus?

Cem Özdemir (Grünen-Parteivorsitzender): In den vergangenen Jahren hat sich viel verändert: Es gibt keinen Streit mehr darüber, ob Kleinkinder schon in der Kita betreut werden sollen, sondern nur noch um das "wie". Familien wollen wir über unser grünes Familienbudget mit 12 Milliarden Euro zusätzlich fördern. Bei uns steht - im Gegensatz zur SPD - die gebührenfreie Kita nicht im Zentrum, sondern die Qualität von Kinderbetreuung, die wir deutlich verbessern wollen. Erzieherinnen und Erzieher wollen wir besser bezahlen. Warum sollen Familien in meiner Einkommensklasse dafür keinen Beitrag leisten?

KNA: Welche Konsequenzen haben Sie mit Blick auf die verlorene Wahl in Nordrhein-Westfalen bei der Bildungspolitik gezogen?

Özdemir: Natürlich schauen wir da auch sehr selbstkritisch zurück. Vielleicht wollten wir zu viel auf einmal. Bei aller Selbstkritik gilt es aber festzuhalten, dass nicht wir die Erfinder von G 8, also der Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr, sind. Wir wollen nicht, dass Kinder durch das Gymnasium hetzen müssen, sondern auch noch Zeit für außerschulische Aktivitäten haben. Wir müssen dranbleiben am Ziel, den Bildungserfolg von der Herkunft abzukoppeln. Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund sollen keine schlechteren Startchancen haben. Der Bund muss sich stärker in der Bildungspolitik engagieren. Dazu ist eine Lockerung des Kooperationsverbotes zwischen Ländern und Bund bei der Bildungspolitik notwendig.

KNA: Sie haben selbst einen türkischen Migrationshintergrund, kritisieren aber die doppelte Staatsangehörigkeit. Soll sie wieder abgeschafft werden?

Özdemir: Diese Frage steht für mich nicht im Vordergrund. Beim Staatsangehörigkeitsrecht würde ich mich an den USA orientieren und das Geburtsrecht ausweiten. Unter der rot-grünen Regierung sind wir einen großen Schritt in diese Richtung gegangen. Bislang kann nur etwa die Hälfte der in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt den deutschen Pass erwerben. Wir wollen das allen Kindern, die in Deutschland geboren werden, ermöglichen.

KNA: Auch Kindern von Asylbewerbern?

Özdemir: Wer in Deutschland geboren wird, ist für uns deutsch, wenn ein Elternteil einen legalen Aufenthaltstitel besitzt. Das ist wesentlich für die Integration, dass wir aus "Ausländern" möglichst schnell "Inländer" machen. Ein "Inländer" hat eher das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft mit gemeinsamen Spielregeln leben, die wir auch beeinflussen können, und die Heilsbringer nicht in Russland und der Türkei sitzen, wie es etwa einige Deutschrussen oder Deutschtürken meinen.

KNA: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle des deutsch-türkischen Islamverbandes Ditib, den viele als verlängerten Arm des türkischen Staatspräsidenten Erdogan wahrnehmen?

Özdemir: Sehr kritisch. Die Zukunft der in Deutschland lebenden Muslime wird hier entschieden, nicht in Ankara, Riad oder anderswo. Wir dürfen nicht zulassen, dass Moscheen zu Spionageeinrichtungen umfunktioniert werden, wie dies teilweise in einigen Ditib-Gemeinden passiert ist. Die Bundesregierung hat mit Ermittlungen abgewartet, bis Beweismittel vernichtet waren - aus Angst vor Erdogan, so drängt sich der Eindruck auf. Umgekehrt kann die Regierung nicht einfach schweigen, wenn die liberale Moscheegründerin Seyran Ates Morddrohungen erhält. Niemand ist doch gezwungen, in ihre Moschee zu gehen. Aber Einschüchterungen gegenüber liberalen Muslimen oder Christen aus dem Orient, die zu uns geflohen sind, gibt es mit mir und meiner Partei in Deutschland nicht. Da ist mit mir nicht gut Kirschen essen. Es verwundert mich schon, dass die Partei mit dem Hohen C im Namen sich so schwer tut, sich zu den inakzeptablen Bedingungen für Christen in der Türkei zu positionieren.

KNA: Was erwarten Sie von Verbänden wie Ditib?

Özdemir: Wenn sie ernst genommen werden wollen, müssen sie sich zu inländischen Organisationen entwickeln. Ich will nicht mit Papageien diskutieren, die herunterbeten, was sie vorher als Direktive aus Ankara bekommen haben. Viele Politiker haben sich von den Gemeindevorständen an der Nase herumführen lassen - zugegebenermaßen in allen Parteien: Liberale Muslime dienen häufig als Fassade, die abtreten müssen, sobald ein Staatsvertrag unterschrieben ist.

KNA: Kann da die Islamkonferenz etwas bewirken?

Özdemir: Ich plädiere für einen Neustart. Die Einführung der Islamkonferenz durch den damaligen Bundesinnenminister Schäuble vor zehn Jahren war eine gute Idee. Aber seine Nachfolger haben sie leider nicht mit demselben Elan verfolgt. Die Bundesregierung hat die Einflussnahme von außen zugelassen. Damit der Islam sich in Deutschland modernisieren kann, dürfen Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien keinen Durchgriff auf die Muslime hier haben.

KNA: Was sollte eine neue Islamkonferenz anders machen?

Özdemir: Neben den bekannten Verbänden sollten wieder frei organisierte Muslime in dem Gremium vertreten sein.

KNA: Sie selbst bezeichnen sich als nicht-praktizierenden Muslim und sind mit einer Katholikin verheiratet. Welche Rolle spielt Religion in Ihrer Familie?

Özdemir: Wir versuchen, unseren Kindern Respekt vor den verschiedenen Religionen, aber natürlich auch vor Atheisten beizubringen. Wir reden aber auch darüber, dass es in allen Weltreligionen Fanatismus gibt - leider. Und dass die große Mehrheit, die diesen Fanatismus nicht teilt, nichts ändert, wenn sie schweigt.

KNA: Und welche Bedeutung hat Religion für Sie persönlich?

Özdemir: Ich saß als Kind im evangelischen Religionsunterricht und mich hat das - im Gegensatz zu manchen anderen Mitschülern - sehr interessiert. Es gab keinen muslimischen Religionsunterricht, und meine Mutter meinte, dass mir der Unterricht auf keinen Fall schade. Später war ich auf einer evangelischen Erzieherschule und habe danach auf einer evangelischen Fachhochschule Sozialpädagogik studiert. In meiner Kindheit war ich sowohl beim evangelischen Jugendwerk in der Freizeit aktiv als auch beim pietistischen Konkurrenzangebot des württembergischen Brüderbundes. Es hat mich gelehrt, welche Kraft Menschen aus ihrem Glauben schöpfen, um ihren Mitmenschen tatkräftig zu helfen. Es hat mich aber auch das Zweifeln gelehrt. Beides habe ich mir versucht bis heute zu erhalten: die Neugierde gepaart mit tiefem Respekt sowie auch den gesunden Zweifel.

Das Interview führte Birgit Wilke.


Quelle:
KNA