Frankreich vor der Stichwahl um das Präsidentenamt

"Katholiken fühlen sich verloren"

Am kommenden Sonntag wird sich in der Stichwahl um das Präsidentenamt entscheiden, welche politische Richtung Frankreich einschlägt. Für den Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris hält sich die Kirche im Vorfeld zu bedeckt.

Wen wählen die Franzosen zum neuen Präsidenten? / © Kay Nietfeld (dpa)
Wen wählen die Franzosen zum neuen Präsidenten? / © Kay Nietfeld ( dpa )

domradio.de: Umfragen hatten schon vorausgesagt, dass der "Front National" mit Marine Le Pen in die Stichwahl um die Präsidentschaft in Frankreich kommt. Nur anders als beim letzten Mal vor 15 Jahren geht dieses Mal keiner auf die Straßen und protestiert gegen die rechtsextreme Partei. Woran liegt das?

Jens Althoff (Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris): Es gibt tatsächlich eine gefährliche Banalisierung des "Front National". Zudem gibt es allgemein eine sehr große Vertrauenskrise gegenüber den politischen Akteuren. Man merkt gerade, was das für eine besorgniserregende Entwicklung ist, dass vor allem wichtige gesellschaftliche Akteure nicht mehr - wie im Jahr 2002 - klar gemeinsam Front gegen den "Front National" machen.

domradio.de: Emmanuel Macron und Marine Le Pen kämpfen in diesen Tagen auch um die Wähler, die im ersten Wahlgang einen anderen Kandidaten gewählt hatten. Katholische Bewegungen hatten mehrheitlich mit dem Kandidaten der bürgerlich-rechten Republikaner, François Fillon, sympathisiert. Wie werden die sich jetzt entscheiden? Le Pen schreibt sich das Katholisch-Sein ja auch auf die Fahnen?

Althoff: Das ist tatsächlich eine sehr schwierige Frage. Vor allem praktizierende Katholiken haben ganz klar für François Fillon, den Konservativen gestimmt. Problematisch ist jetzt, dass sich die katholische Bischofskonferenz in Frankreich weder gegen eine Wahl von Marine Le Pen,  noch für eine Wahl von Emmanuel Macron, ausgesprochen hat. Dadurch fühlen sich natürlich auch viele Katholikinnen und Katholiken etwas verloren und es besteht die Gefahr, dass viele sich enthalten werden oder einen leeren Wahlzettel abgeben.

domradio.de: Eine erklärte Gegnerin der EU und ein proeuropäischer Kandidat treten gegeneinander an. Das Verhältnis zur EU könnte sich nach der Wahl vielleicht entscheidend ändern. Wie stark ist Frankreich denn von der EU abhängig?

Althoff: Frankreich ist sehr stark von der EU abhängig, insbesondere die französische Wirtschaft. Deswegen will eine klare Mehrheit der Französinnen und Franzosen nicht aus der EU austreten oder den Euro verlassen. Das merkt man auch daran, dass Marine Le Pen auf den letzten Metern versucht, ihre Position zum Euro nochmal zu revidieren. Sie wolle jetzt den Franc wieder einführen, aber gleichzeitig den Euro behalten. Diese merkwürdige Konstruktion kann natürlich nicht funktionieren, zeigt aber auf, dass die Franzosen nicht aus der EU raus wollen.

domradio.de: Im Gegensatz dazu die Frage, inwieweit die Europäische Union von Frankreich abhängig ist?

Althoff: Ganz entscheidend, so dass die Wahl am nächsten Sonntag eine hohe Bedeutung hat. Die Franzosen stimmen nicht nur über die Zukunft von Frankreich ab, sondern entscheiden durch die Wahl auch über die Zukunft  von Europa.

domradio.de: Falls Le Pen gewinnt, ist schon von einem französischen "Brexit", also einem "Frexit" die Rede. Für wie wahrscheinlich halten sie dieses Szenario?

Althoff: So schnell wird das nicht eintreten. Selbst wenn Marine Le Pen gewinnen sollte, was immer noch als unwahrscheinlich gilt, dann hat auch sie angekündigt, dass sie die Franzosen in einem Referendum entscheiden lassen würde. Trotzdem birgt das Ganze die Gefahr, dem europäischen Projekt zu schaden. Folglich wäre die Wahl von Le Pen eine Katastrophe für Europa. Aber der mögliche Austritt Frankreichs aus der EU würde nicht so schnell und einfach über die Bühne gehen wie in Großbritannien. 

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR