Kampf um Gerechtigkeit ist nie wirklich aus der Mode gekommen

Die G-Frage

Wer will schon Ungerechtigkeit? Im Kleinen und Großen kreisen viele Debatten um die Gerechtigkeitsfrage. Es zeigt sich immer wieder, dass das, was als gerecht empfunden wird, höchst individuell sein kann.

Autor/in:
Leticia Witte
Justitia verkörpert die Gerichtsbarkeit (dpa)
Justitia verkörpert die Gerichtsbarkeit / ( dpa )

Die SPD stellt in diesen Tagen nicht nur die K-Frage, sondern auch unmissverständlich klar: "Zeit für mehr Gerechtigkeit". So zum Beispiel auf dem Parteitag im März, bei dem die Delegierten Martin Schulz einstimmig zu ihrem Bundesvorsitzenden wählten. Der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten führt ohnehin ständig das Wort Gerechtigkeit im Mund - sie ist eines seiner zentralen Wahlkampfthemen. Tatsächlich aber ist die Gerechtigkeitsfrage nicht neu - sie ist ein Dauerbrenner: von der Antike bis heute, in Gesellschaft, Politik, Justiz und Religion.

In der Philosophie etwa gehört die Gerechtigkeit neben Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit zu den Kardinal-, also Grundtugenden. Es geht darum, "jedem das Seine" (suum cuique) zukommen zu lassen. Heute kommt man bei diesen drei Wörtern nicht umhin, an die gleichlautende, zynische Inschrift auf dem Tor des früheren NS-Konzentrationslagers Buchenwald zu denken, mit dem die Häftlinge gleich bei ihrer Ankunft gedemütigt wurden.

An die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden erinnert die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Gewürdigt werden dort auch Nichtjuden, die unter Einsatz ihres Lebens Juden vor der Vernichtung gerettet haben. Der Titel "Gerechter unter den Völkern" ist die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nichtjuden vergibt. Der Begriff leitet sich ab aus einer Passage des Talmud: "Die Gerechten unter den Völkern der Welt haben einen Platz in der kommenden Welt."

Bestehen vor Gott

Auch die Bibel kennt den Begriff der Gerechtigkeit, im Alten Testament etwa im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit Gottes oder der Herrschaft des Hauses Davids. Im Neuen Testament kommt das Wort "Gerechtigkeit" laut "Lexikon für Theologie und Kirche" 91 mal vor, mehrheitlich in den Paulusbriefen. Hinzu treten weitere Fundstellen etwa für "gerecht" oder "rechtfertigen". Die Gerechtigkeit lässt den Menschen demnach vor Gott bestehen. Er ist Sünder, die Gerechtigkeit daher als Geschenk Gottes aufzufassen.

Wenn wir heute in weltlichen Zusammenhängen über Gerechtigkeit reden, haben wir auch die Justiz im Sinn. Was ist Recht, was Gerechtigkeit?

"Keine Strafe ohne Gesetz", heißt es gleich in Paragraf 1 des Strafgesetzbuches. Auch wenn Recht gesprochen wurde: Ob eine Strafe als gerecht empfunden wird, daran scheiden sich oft die Geister, wie Empörungswellen nach vermeintlich zu milden Urteilen gerade für Sexualstraftäter immer wieder zeigen. Die einen wollen für den Täter lebenslänglich; im Fall von Kindesmissbrauch lautet eine bei Rechtsextremen beliebte Forderung "Todesstrafe für Kinderschänder".

In Debatten am Wohnzimmertisch, in der Kantine, den Parlamenten oder in Kirchenpredigten geht es häufig um soziale Gerechtigkeit: gleiche Chancen für alle nicht nur in Deutschland, gerechte Löhne für Frauen und Männer, ein besserer Zugang zu Bildung und Ausbildung, die Höhe von Sozialleistungen. Dafür streiten Parteien unterschiedlicher Couleur und auch die Kirche - Stichwort kirchliche Soziallehre. Über das, was gerecht sein soll, herrscht jedoch nicht immer Konsens.

Etwa jüngst bei der "Ehe für alle". Die Fraktionen sind sich nicht darüber einig, ob die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. Aus Sicht von Betroffenen wäre das gerecht.

Auch wenn in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft homosexuelle Paare bei einigen Rechten und Pflichten mit Eheleuten gleichgestellt wurden, dürfen sie zum Beispiel nicht gemeinsam ein Kind adoptieren.

Dramatische Wendepunkte

Oder ein Blick in die Geschichte: Aus Sicht manch eines DDR-Bürgers waren die Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik stärker von Gerechtigkeit geprägt als in der Bundesrepublik. Denn oft kam es nach der politischen Wende zu dramatischen Wendepunkten im Privatleben von Ostdeutschen: Langzeitarbeitslosigkeit und schmales Arbeitslosengeld nach jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit, Verlust von Identität, Abwertung des bisherigen Lebens durch "arrogante Wessis".

Dissidenten dürften dies anders gesehen haben. Die SED-Führung belegte einige von ihnen in der DDR mit einem Berufsverbot, Menschen wurden verfolgt. Das war nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich für die Betroffenen und ihre Familien. Und noch ein anderer Aspekt berührt die deutsch-deutsche Geschichte: 27 Jahre nach der Wiedervereinigung wird hin und wieder noch immer darüber diskutiert, ob die DDR ein "Unrechtsstaat" war. 

Zu den Menschen, die sich wissenschaftlich mit Gerechtigkeit beschäftigen, zählt die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum.

In ihrem Buch "Gerechtigkeit oder Das gute Leben" von 1998 plädiert sie für ein System von Unterstützung, "das allen Bürgern ein ganzes Leben lang eine gute Lebensführung ermöglicht". Dazu gehörten ein Gesundheitssystem, gesundes Wasser, ausreichende Ernährung, angemessene Unterkunft sowie Sicherheit für Leben und Besitz. Dies als gerecht zu empfinden, dürfte möglicherweise Minimalkonsens sein.


Quelle:
KNA