Heiner Geißler über Gott, Politik und sein Leben - Teil 2

"Agenda 100 läuft"

Heiner Geißler hat viel erlebt in seinem schon langen Leben. Als Politiker, Menschenrechtler, Familienvater und Autor. Im großen domradio.de-Interview blickt er zurück und wagt gleichzeitig den Blick in die politische und persönliche Zukunft.

Heiner Geißler / © Markus Scholz  (dpa)
Heiner Geißler / © Markus Scholz ( dpa )

domradio.de: Eines Ihrer Ziele ist die Menschenrechtsarbeit. Und Sie haben großen Mut bewiesen, zum Beispiel während der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile. Sie sind dahin gereist und Sie haben im Land Klartext geredet, zum Beispiel über eine, vom Regime verbrannte, mit Benzin übergossene und verbrannte Studentin, die aber als Terroristin hingestellt wurde.

Heiner Geißler (CDU-Politiker und Buchautor): Der Mensch ist in seiner Würde unantastbar. Und das hat aber knallharte Konsequenzen. Das ist nicht irgendein Geschwätz, sondern das bedeutet eben, dass die Würde unantastbar ist, unabhängig davon, ob einer katholisch, evangelisch oder Jude ist, Deutscher oder Ausländer. Dann sieht man schon, welche explosive Kraft in diesem Menschenbild steckt. Und das hat mich eben dazu gebracht, mich dafür auch einzusetzen.

Wobei wir heute ein ganz anderes Problem haben. Heute wird die Menschenwürde dadurch verletzt, dass es Wirtschaftsterroristen gibt, die mit ihrer Ideologie dafür sorgen, dass der Mensch zu einem Kostenfaktor wird. Das heißt, der Mensch gilt umso mehr, je weniger er kostet. Und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Diese Ökonomisierung des gesamten Lebens ist heute das eigentliche Problem.

domradio.de: Sie haben sich schon in den 1980er Jahren sehr dafür eingesetzt, dass es eine Vereinbarkeit für beide Eltern von Beruf und Familie gibt. Und Sie haben sehr viel versucht und initiiert, dass es Frauen, auch wenn sie alleinerziehend sind, besser geht. Was war das Motiv? Das haben ja nun lange nicht alle Männer in den 1980er Jahren gemacht, oder alle männlichen Politiker.

Geißler: Die Anerkennung von Erziehungsjahren  war mein Vorschlag, und der ist nachher  -  als ich Bundesminister war  -  auch realisiert worden. Im Prinzip sind da die ersten Schritte getan geworden: Die Arbeit, die Aufgabe in der Familie wird genauso gewertet wie die Arbeit in der Fabrik oder im Büro.

Oder der Kündigungsschutz für berufstätige Frauen, die ein Kind bekommen haben. Oft wurde ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt, auch von Chefärzten in katholischen Krankenhäusern: Entweder das Kind oder der Job. Und aus diesem Dilemma, in dem viele Frauen sich befanden, wollte ich die Frauen befreien. Das waren die ersten Schritte.

domradio.de: Wenn man 87 Jahre alt ist, dann wissen Sie, dass irgendwann auch Ihre Zeit hier auf dieser Erde zu Ende geht. Sie haben mit sich selbst eine Agenda vereinbart. Die Agenda 100. Und Sie haben viele Freunde. Dazu gehören Ihre Leber, Ihre Nieren und alles wollen Sie gut behandeln.

Geißler: Ich bin organisch völlig gesund. Und warum soll ich meinen Körper schlecht behandeln, zum Beispiel durch zu viel Alkohol  und wenig Sport? Vielleicht schaffe ich auch so zu leben, bis ich 100 Jahre alt werde. Ich weiß es nicht, ob das gelingt. Aber ich glaube, man muss auch im Alter sein Leben ein bisschen danach ausrichten

domradio.de: Haben Sie denn Lust, 100 Jahre alt zu werden?

Geißler: Ja, natürlich. Also Lust, ich glaube, das ist so eine Kategorie, die kann man sich abschminken. Es ist eher eine Hoffnung, dass man eben sagt: Man muss jetzt nicht unbedingt sterben, wenn man gesund ist, wenn man gar keine Krankheit hat. Ja, da muss man etwas dafür tun.

domradio.de: Was tun Sie denn dafür? Also welchen Sport machen Sie denn?

Geißler: Man muss sich bewegen. Man muss joggen, man muss die Berge rauf und runter steigen können. Also deswegen ist es mein Sport, den ich mache, den ich noch machen kann. Ich klettere zum Beispiel immer im Pfälzer Wald. Aber man muss genauso geistig fit bleiben. Das ist mindestens genauso wichtig. Und das mache ich auch. Ich halte Vorträge, schreibe Bücher und  mache Interview.

domradio.de: Sie sagen: "Demut ist Wahrhaftigkeit gegen sich selber." Also Sie sind nicht nur freundlich zu Ihrem Körper, sondern Sie sagen: Ich bin auch wahrhaftig gegen mich selber.

Geißler: Demut ist Wahrhaftigkeit gegenüber sich selber, dass man sich richtig einschätzt. Und das bedeutet vor allem, dass man die Angst verlieren muss. Man sollte keine Angst haben vor Menschen. Das ist leicht gesagt für einen wie mich.

Für die Kassiererin bei Lidl ist es natürlich eine leichtfertige Aussage, denn die kann sich oft nicht wehren. Aber dafür gibt es eben den Betriebsrat und die Gewerkschaften. Das ist die humane Bedeutung einer organisierten Arbeiterbewegung, dass diese Menschen nicht allein sind. Das gehört auch dazu.

domradio.de: Sie haben gesagt: "Altern kann man eigentlich nur dann gut, wenn man weiß, wozu man gelebt hat, was der Sinn im Leben ist."

Geißler: Von hundert Leuten sterben hundert. Da ist gar nicht zu ändern. Der Tod packt jeden: den Millionär genauso wie den Mann, der bei der Müllabfuhr arbeitet. Und dann ist es schon wichtig,  wenn man weiß, was für einen Sinn das Leben gehabt hat. Und ich sehe den Sinn des Lebens darin, dass ich das, was ich kann, dafür eingesetzt habe, dass es den Menschen besser geht.

Ob es ein zweites ewiges Leben gibt, weiß ich nicht. Aber ich kann dann wenigstens sagen, wenn ich sterbe, dass mein Leben einen Sinn gehabt hat - weil es durch meinen Tun vielen Menschen einfach besser geht als vorher. Das kann jeder realisieren in seinem Umfeld, in der Familie, in der Nachbarschaft, wenn er sich engagiert. Das gilt auch für die Forschung, für die Lehre. Wenn jemand Arzneimittel erfindet oder in anderen Bereichen eben dafür sorgt, dass Menschen glücklich sein können und dazu in seinem Leben einen Beitrag geleistet hat.

Das Interview führte Angela Krumpen.


Quelle:
DR