Experte für interkulturelle Öffnung zur türkischen Politstrategie in Deutschland

"Debatte könnte unaufgeregter geführt werden"

Der türkische Präsident Erdogan sorgt in Deutschland mit geplanten Auftritten seiner Minister für Aufruhr - auch bei Türken in Deutschland. Diese sind durchaus zwiegespalten, sagt Sedat Sari, Experte für interkulturelle Öffnung.

Türkische Wahlurnen in Deutschland (Archiv) / © Holger Hollemann (dpa)
Türkische Wahlurnen in Deutschland (Archiv) / © Holger Hollemann ( dpa )

domradio.de: Wie hat Erdogan es geschafft, so viele Türken in Deutschland zu mobilisieren?

Sedat Sari (Türkischstämmiger Psychologe und freier Mitarbeiter des Instituts zur interkulturellen Öffnung): Ich würde es nicht nur auf die Türken in Deutschland beschränken, denn das Wahlrecht gilt weltweit. Wir sprechen von vier Millionen Wahlberechtigten innerhalb der EU. Das ist in Deutschland ein großer Teil der Wahlberechtigten, auf die Erdogan zurückgreifen kann und vielleicht sogar muss.

domradio.de: Wie lässt es sich erklären, dass Menschen, die zwar einen türkischen Pass haben, aber schon seit jeher in Deutschland leben, sich so engagieren?

Sari: Weil sie das erste Mal die Chance dazu haben, sich politisch auf dieser Ebene, auch mit dem Wahlrecht, auseinander zu setzen. Im Hinblick auf die politischen Ereignisse können sie eine Persönlichkeit entwickeln, auch wenn sie 2.500 Kilometer weit weg sind. Zumindest ist es eine politische Teilhabe, die immer mit Wertschätzung zusammenhängt, und ich glaube, dass dieser Fall in den vergangenen Jahrzehnten nicht auf die türkische Community zugetroffen ist, gerade wenn wir uns Deutschland ansehen. Außerdem ist politische Teilhabe im Sinne von einer Auseinandersetzung mit politischen Inhalten grundsätzlich zu begrüßen, wovon viele Menschen Gebrauch machen. Erdogan schafft es, alle Türken zu mobilisieren, auch diejenigen, die nicht für ihn stimmen. Das Wahlrecht hier in den deutschen Konsulaten bildet schlussendlich auch das Wahlverhalten der Türkei ab. Wenn man sich die Zahlen ansieht, ist das kein großer Unterschied, dazu gibt es valide Daten.

domradio.de: Woran liegt das? 

Sari: Das ist ein weltweiter Effekt, den ich schon seit geraumer Zeit beobachte. Es ändern sich weltweit politische Strömungen, sei es durch Putin, Trump oder Erdogan. Das alles sind Tendenzen. Wir müssen auch dem Rechnung tragen und die Strömungen beobachten, die die Menschen aufgreifen und interessieren. Das schlägt sich auch in ihrem Wahlverhalten nieder. Da ist der politische und demokratische Diskurs eine wichtige Grundlage, bei der wir mittendrin sind. Ich begrüße es, dass die hier lebenden Türken endlich politisch aktiv werden. Das mag uns an der ein oder anderen Stelle vielleicht nicht gefallen, aber es ist zumindest eine positive Grundlage, um in den Diskurs reinzukommen. 

domradio.de: Hier in Deutschland sind die Türken von den Folgen des Referendums gar nicht betroffen. Ergibt das denn Sinn, für etwas abzustimmen, was einen am Ende gar nicht betrifft?

Sari: Direkt schließe ich mich dem an, aber indirekt würde ich das verneinen. Jeder hat Verwandte, Bekannte oder eine soziale Umgebung in der Türkei. In meinem Fall lebt meine Mutter inzwischen nach 40 Jahren in Deutschland wieder in der Türkei. Ich hab immer Beziehungen zur Türkei, und das ist eine indirekte Beziehung. Ich kenne viele türkischstämmige Deutsche, die sich in der deutschen Politik engagieren, aber gleichzeitig die Chance nutzen, sich auch in der türkischen Politik zu engagieren. Da ist jeder frei in seiner Meinung. 50 Prozent engagieren sich für die AKP, denn die besteht nicht nur aus Erdogan.

domradio.de: Wenn man die Medienberichte verfolgt, bekommt man schnell den Eindruck, als würde der überwiegende Teil der hier lebenden türkischstämmigen Menschen pro Erdogan sein. Warum scheint das so?

Sari: Ich nehme es auch so wahr, dass dieser Eindruck erweckt wird. Tatsächlich aber ist die türkische Community, die hier lebt, keine homogene Gruppe, und nicht alle sind Erdogan-Anhänger. Jeder, der sich in diesem sozialen Feld bewegt, weiß, dass wir die kurdischen und türkischen Mitbürger und die religiösen Gruppierungen haben. Die gesamte Palette der kulturellen Ausprägungen ist in der türkischen Community verankert. Ich würde die Medien in die Pflicht nehmen wollen, um zu sagen, dass man von den Menschen ein differenzierteres Bild zeichnet. Ansonsten ist es nur eine Zuspitzung, die mir persönlich zu wenig wäre.

domradio.de: Machen sich die hier lebenden Türken, die pro Erdogan sind, durch die Gegendemonstrationen lauter bemerkbar?

Sari: Das mag ein Effekt sein. Gerade mit der medialen Zuspitzung wird ein Eindruck erweckt, als sei ein Großteil der Türken in Deutschland für die AKP. Das kann ich aus meinen persönlichen Recherchen nicht bestätigen. Die Meinungsvielfalt ist in der türkischen Community abgebildet.

domradio.de: Inwieweit würde es helfen, die Türken hier bei uns mehr in das politische Geschehen in Deutschland einzubinden? Was kann man konkret tun?

Sari: Das würde sehr helfen. Da wir eine große Gruppe haben, die bisher politisch nicht aktiv war, würde ich es begrüßen, auch an dieser Stelle den politischen Diskurs weiterzuführen und Angebote zu formulieren. Das heißt, dass ich nicht nur die Wahl zwischen Ja und Nein in einem weit entfernten Land haben darf, sondern Menschen einladen würde, sich auch hier politisch zu betätigen. Die Inhalte sind jedem persönlich zugeschnitten, jeder darf sich frei bewegen. Ich würde es begrüßen, wenn man darüber nachdenken würde, ob hier lebende Türken auch ein Wahlrecht bekommen könnten. Das ist eine politische Frage, aber gesellschaftlich hat sich dieser Wandel schon lange vollzogen. Ich glaube, dass ein Großteil der Türken gut integriert ist, trotz der Untersuchungen, die manchmal darauf hinweisen, dass noch sehr viel Integrationsbedarf besteht. Aber da bin ich positiv geneigt zu sagen, dass wir diese Menschen auch auf der politischen Ebene haben, und dass der richtige Diskurs jetzt anfangen muss.

domradio.de: Könnte das auch eine Aufgabe für Bildungsträger in Deutschland sein?

Sari: Ja, zum Beispiel. In dieser Hinsicht sind die sehr aktiv und fleißig, in diesem Feld passiert sehr viel. Allerdings müssen wir sehen, wie die Realität und das Denken weiter begleitet werden können, so dass dabei auch Sachen oder Umstände herauskommen, bei denen sich jeder wohlfühlt. Die derzeitige hitzige Debatte könnte viel unaufgeregter diskutiert werden. 

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan / © Henning Kaiser (dpa)
Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan / © Henning Kaiser ( dpa )
Quelle:
DR