Sigmar Gabriel - ein Verzicht mit Getöse

Rückzug wegen "vernichtender Beliebtheitswerte"

Nun steht Merkels Herausforderer fest: Martin Schulz. Unionspolitiker versuchen sogleich, ihn klein zu machen. Doch manche befürchten, dass er der Kanzlerin gefährlicher werden kann als Gabriel.

Autor/in:
Tim Braune
Rückzug als Kanzlerkandidat: Sigmar Gabriel / © Michael Kappeler (dpa)
Rückzug als Kanzlerkandidat: Sigmar Gabriel / © Michael Kappeler ( dpa )

Genie und Wahnsinn - seit jeher wird Sigmar Gabriel in der SPD so beschrieben. Auf kluge Schachzüge - wie der Steinmeier-Coup, mit dem er Merkel in der Bundespräsidenten-Frage überlistete - folgen Alleingänge und eine Kommunikation, die Parteifreunde verstören. Diesem Verhaltensmuster bleibt Gabriel an diesem 24. Januar treu, der mit seinem Rücktritt vom Vorsitz, dem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und der Inthronisierung von Martin Schulz als neuem Hoffnungsträger der 21-Prozent-SPD ohne Zweifel ein großes Kapitel in der Geschichte der ältesten deutschen Partei einnehmen wird. Aber der Reihe nach. Die SPD hat in der K-Frage böse Erfahrungen gemacht. Vor den Wahlen 2009 und 2013 purzelten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück als Sturzgeburten auf die Bühne. Die folgenden Wahlkämpfe gingen grandios schief. Das wollte Gabriel unbedingt vermeiden, schwor alle auf den Zeitplan mit dem Finale am kommenden Sonntag ein. Aber es klappt wieder nicht. Die SPD schafft bei den Sturzgeburten nun den Hattrick.

Überraschung auch für die SPD

Für 17.00 Uhr ist eine vertrauliche Sitzung der Parteispitze im Willy-Brandt-Haus angesetzt. Dort soll Gabriel, auf den in den letzten Tagen der Druck beinahe stündlich zunahm, die Karten auf den Tisch legen. Der innerste Kreis weiß inzwischen, was kommen wird. Aber die SPD-Abgeordneten sind noch völlig ahnungslos.

Gegen 14.30 Uhr warten Reporter und zahlreiche Parteimitarbeiter im dritten Stock des Reichstages. Gleich fängt die Fraktionssitzung an. Deren Chef Thomas Oppermann spricht fröhlich in die Kameras, dass Gabriel am Abend in den Parteigremien einen Vorschlag zur K-Frage machen werde: "Lassen Sie sich überraschen!" 

Kaum jemand in der SPD ahnt, dass die Sensation in diesem Moment bereits durch das Internet rauscht. Fast zeitgleich zu Oppermanns Auftritt twittert das Branchenmagazin "Meedia" das Titelbild der neuen Ausgabe des Hamburger Magazins "stern" - Überschrift zu einem großen Gabriel-Foto: "Der Rücktritt". Auf dem Flur vor dem Otto-Wels-Saal bricht Unruhe aus. Gabriels Sprecher wirken verstört, ergreifen die Flucht.

Justizminister Heiko Maas, dem der "stern"-Titel auf einem Smartphone gezeigt wird, zuckt mit den Schultern: "Ist das Fake News?", witzelt er. In der Fraktion verbreitet sich die Nachricht in Windeseile. Aber stimmt das auch, dass Gabriel auf den Parteivorsitz verzichtet, den er seit siebeneinhalb Jahren inne hat - so lange wie niemand mehr seit Willy Brandt? Er will Außenminister werden?

Informationsleck bei Zeitschriften-Großhändlern?

Einige Abgeordnete wollen es nicht glauben. Dann kommt um kurz vor 15.00 Uhr Gabriel durch einen Seiteneingang in den Saal. Er setzt sich neben Oppermann. Gabriel platzt fast vor Wut. Seine Hände zittern. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. "Das war so nicht abgesprochen", murmelt er vor sich hin.

Vorab hatte er nämlich "stern"-Chefredakteur Christian Krug über seine Pläne informiert. Abgesprochen war eine Sonderausgabe für diesen Mittwoch. Gabriel und Krug sind befreundet, im Vorjahr begleitete der Journalist und Maghreb-Experte den Vizekanzler auf einer mehrtägigen Auslandsreise. Auch "Zeit"-Mann Bernd Ulrich weihte Gabriel ein. Doch irgendwo gibt es ein Leck - "Meedia" schreibt von "Grossisten-Kreise" als Quelle. Das heißt, sie haben womöglich von Zeitschriften-Großhändlern einen Tipp bekommen.

Im Fraktionssaal erhebt sich Gabriel. Er schlägt Schulz als Kanzlerkandidaten und Parteichef vor. Das sei für die Partei das Beste. Mit Schulz habe die SPD einfach bessere Chancen gegen Merkel, erläutert Gabriel, den seine Gegner mit Verweis auf intern erhobene "vernichtende" Beliebtheitswerte seit langem zu diesem Schritt gedrängt hatten. Die Abgeordneten stehen auf, applaudieren lange.

Später sagen viele Parteipromis, Gabriel habe echte Größe gezeigt. Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte und langjährige Gabriel-Kritiker meint, der Goslarer sei nun aber auch eine tragische Figur. Die katastrophale Kommunikation des Rücktritts sei nicht entscheidend: "Das Ergebnis der Operation zählt und nicht der Verlauf", sagt der Professor, der sich wie viele auf die Schulz-Ära freut.

Eigentümliche Alleingänge

Oppermann würdigt Gabriel als großen Vorsitzenden, der die Partei nach 2009 wieder aufgerichtet habe - dennoch ist er verärgert, entschuldigt sich für den irren Ablauf: "Ich kannte das "stern"-Interview nicht." Es gehöre zum guten Umgang miteinander, "dass solche Personalfragen zunächst in den Gremien der Partei besprochen werden und dann darüber öffentlich informiert wird". 

So ist Gabriel eben. Oft reißt der 57-Jährige mit dem Hintern ein, was er vorher mühsam aufgebaut hat. Kaum ein Parteifreund, der noch nicht von dem impulsiven Vorsitzenden heruntergeputzt oder enttäuscht wurde. "Wenn er zur Hochform aufläuft, macht er alles nieder. Jeden", sagte Renate Luksch in einer neuen Biografie über den Vizekanzler. Luksch zählt in Goslar zum engen Freundeskreis der Familie. 

Erstaunlich ist, dass Gabriel nun seine Karriere im Außenministerium fortsetzen will. Am Dienstag soll das die Fraktion absegnen, ebenso das Comeback von Brigitte Zypries, die einst das Justizressort führte und nun Wirtschaftsministerin wird. Vor vier Jahren hatte Gabriel den Posten als Chefdiplomat aus Rücksicht auf die Familie noch abgelehnt. 

Denn da sind ja in Goslar ein paar Menschen, die viel ertragen müssen, weil ein Alphatier wie Gabriel fast nie zu Hause sein kann. Im Februar erwarten Gabriel und seine Frau Anke noch ein zweites gemeinsames Kind. Wieder ein Mädchen. Oft spricht Gabriel - der als kleiner Junge unter einem Nazi-Vater litt und sich stets nach Geborgenheit sehnte - von seiner vierjährigen Tochter Marie. Er sieht sie selten. Als Außenminister wird die Zeit noch knapper sein. Aber es sind nur noch ein paar Monate bis zur Bundestagswahl. Dann dürfte sich die schillernde Karriere Gabriels ihrem Ende nähern, von dem viele einst glaubten, er könne einmal Kanzler werden.


Quelle:
dpa