Jahresbilanz von Reporter ohne Grenzen

"Kein Anlass zur Entwarnung"

Weltweit sind dieses Jahr 74 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet worden - darüber berichtet die Organisation Reporter ohne Grenzen. Sie fordert einen UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten.

Kameramann im Jemen / © Yahya Arhab (dpa)
Kameramann im Jemen / © Yahya Arhab ( dpa )

domradio.de: Mindestens 74 Journalisten, Medienmitarbeiter und Bürgerjournalisten sind laut Ihrem Bericht wegen ihrer Arbeit getötet worden. Erklären wir kurz den Begriff "Bürgerjournalist", wer ist damit gemeint?

Anne Renzenbrink (Pressereferentin von Reporter ohne Grenzen): Wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal in der Jahresbilanz auch Bürgerjournalisten und Medienmitarbeiter wie Kameraleute oder Tontechniker gleichberechtigt hinzugezählt. Damit zollen wir der wachsenden Bedeutung für die Recherche und Verbreitung von politisch relevanten Nachrichten Rechnung. Gemeint sind zum Beispiel Bürgerjournalisten, die durch Twitter oder auf Facebook Nachrichten verbreiten und damit auch mit Blick auf Länder mit autoritären Regimen und Kriegsregionen Informationen veröffentlichen, in denen professionelle Journalisten nur schwer arbeiten können. 

domradio.de: Manchmal fragt man sich ja: Wie kommen eigentlich Menschen an Informationen? Wo kommt das her, was wir da gerade in den Nachrichten gehört haben. Vermutlich - wenn wir von der Nachrichtenmenge ausgehen - ist Syrien das gefährlichste Land für Reporter, oder?

Renzenbrink: Genau, Syrien gehört auf jeden Fall zu den gefährlichsten Ländern für Journalisten weltweit. Es ist im Prinzip die Hölle auf Erden. Journalisten dort können jederzeit Opfer von Luftangriffen werden oder unter Artilleriebeschuss geraten. Sie können von Sicherheitskräften des Regimes festgenommen werden oder von Dschihadisten entführt werden. Alleine in diesem Jahr wurden elf professionelle Journalisten und acht Bürgerjournalisten im Zusammenhang mit ihrer Arbeit in Syrien getötet.

domradio.de: Es gibt bestimmt auch Stimmen, die sagen: Wer sich freiwillig ins Krisengebiet wagt, ist selber schuld. Oder: Ich brauche keine Kriegsberichterstattung? Was entgegnen Sie denen?

Renzenbrink: Es ist auf jeden Fall essentiell, dass weiterhin Journalisten aus Krisengebieten berichten können, ohne Angst vor Repressalien zu haben. Einfach, damit wir weiterhin Informationen aus diesen schwer zugänglichen Gebieten bekommen können - sowohl für die einheimische Bevölkerung als auch für die internationale Gemeinschaft.

domradio.de: Wenn wir jetzt von 74 getöteten Medienschaffenden hören - wie kommt es dann zu diesen Todesfällen? Werden Reporter aus Versehen getötet, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind oder werden sie ganz gezielt umgebracht?

Renzenbrink: Laut unserer diesjährigen Jahresbilanz ist es erschreckenderweise wirklich so, dass wir sehen, dass fast drei Viertel der getöteten Medienschaffenden wirklich gezielt angegriffen wurden. Das ist natürlich sehr erschreckend. Das zeigt auch, dass Gewalt gegen Journalisten zunehmend auch planmäßig angewandt wird. Zum anderen zeigt es auch, dass internationale Bemühungen zum Schutz von Journalisten bislang weitgehend folgenlos geblieben sind.

domradio.de: Welche Bemühungen könnte man denn überhaupt noch anstrengen, um Journalisten in Zukunft besser zu schützen?

Renzenbrink: Das ist etwas, was wir schon sehr lange fordern - und zwar die Einsetzung eines UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten. Es gibt schon eine ganze Reihe von UN-Resolutionen für einen besseren Schutz, vor allem in Konfliktgebieten. Bislang hatten die aber kaum konkrete Auswirkungen auf die Lage der Betroffenen. Deshalb fordern wir einen UN-Sonderbeauftragten, der die bestehenden völkerrechtlichen Vorschriften durchsetzen kann und damit die Zahl von Übergriffen verringert.

domradio.de: Wenn wir zum Schluss nochmal auf die Zahl blicken und sie mit der Vergangenheit vergleichen. Im Verhältnis zum Vorjahr ist die Zahl der Getöteten sogar zurückgegangen. Ist das für sie ein Zeichen der Hoffnung?

Renzenbrink: Es ist tatsächlich so, dass es im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang gab. 2015 sind mindestens 101 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet worden. Das ist für uns aber absolut kein Anlass zur Entwarnung. Dieser Rückgang erklärt sich insbesondere dadurch, dass viele Journalisten aus einigen Ländern geflohen sind, weil dort einfach die Fortsetzung ihrer Arbeit zu gefährlich gewesen wäre. Das ist zum Beispiel insbesondere in Ländern wie Syrien, dem Irak und Libyen der Fall - aber auch im Jemen, Afghanistan und Burundi. Eine Folge dessen ist, dass aus Ländern mit diesen akuten politischen Konflikten unabhängige Informationen fehlen.  

Das Interview führte Daniel Hauser. 


Quelle:
DR