Katholisches Hilfswerk für gemeinsames Gedenken

"Die vielleicht letzte Chance"

Zum 75. Jahrestag des Massakers von Babi Jar oganisiert das Maxmilian-Kolbe-Werk eine Begegnung ukrainischer und Deutscher Jugendlicher. Die Erinnerungen müssten wach bleiben, mahnt Projektleiterin Liliy Doroshchuk. 

Autor/in:
Volker Hasenauer
Gedenkstätte Babij Jar bei Kiew / © Harald Oppitz (KNA)
Gedenkstätte Babij Jar bei Kiew / © Harald Oppitz ( KNA )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Das Massaker von Babi Jar, einer Schlucht am Stadtrand von Kiew, war die größte einzelne Mordaktion, die von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs gegen die Sowjetunion verübt wurde. SS und Wehrmacht ermordeten bei den Massenerschießungen am 29. und 30. September 1941 mehr als 30.000 Kiewer Juden, vor allem Kinder, Frauen und ältere Männer. Frau Doroshchuk, spielt das Gedenken an die Erschießung von mehr als 30.000 Kiewer Juden durch die SS-Truppen im September 1941 in der Ukraine heute noch eine große Rolle?

Liliya Doroshchuk: Das Erinnern und Gedenken findet leider nur rund um die Jahrestage statt. Das liegt am zeitlichen Abstand, aber auch daran, dass andere Themen, wie aktuell der Krieg im Osten der Ukraine, das tägliche Leben der Menschen beherrschen. Anlässlich des 75. Jahrestags der Tragödie ist in Kiew und anderen Städten eine Reihe von Gedenkveranstaltungen geplant. Am 29. September wird in der Gedenkstätte Babi Jar die zentrale Gedenkzeremonie stattfinden. Dazu kommen Holocaust-Überlebende und offizielle Delegationen. Auch die Teilnehmer unserer deutsch-ukrainischen Jugendbegegnung nehmen teil.

KNA: Ist ein Gedenken an die Verbrechen vor 75 Jahren angesichts der aktuellen Kriegslage im Osten der Ukraine überhaupt möglich?

Doroshchuk: Der Krieg im Osten, dem noch immer täglich viele Menschen zum Opfer fallen, beherrscht das politische und gesellschaftliche Leben der gesamten Ukraine. Eine der Folgen ist die konstante Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Menschen. Vor allem Alte und Kranke, darunter KZ- und Holocaustüberlebende, sind vergessene Opfer dieses Kriegs. Mit der deutsch-ukrainischen Jugendbegegnung möchten wir der Opfer der Tragödie von Babi Jar gedenken, aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die Holocaust- und KZ-Überlebenden und ihre aktuelle Notlage lenken.

KNA: Das Maximilian-Kolbe-Werk bringt nun ukrainische und deutsche Jugendliche zusammen. Was erwarten und erhoffen Sie sich davon?

Doroshchuk: Wir haben 20 junge Deutsche und Ukrainer an den authentischen Ort der Geschichte eingeladen, damit sie sich mit der leidvollen deutsch-ukrainischen Vergangenheit befassen können. Sie haben dabei Gelegenheit, mit KZ- und Holocaustüberlebenden zu sprechen, aber auch über aktuelle Krisen in der Ukraine, Deutschland und Europa zu diskutieren. Im Mittelpunkt der Begegnung steht die Frage, was junge Deutsche und Ukrainer aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft lernen können.

KNA: Beeinflusst die geschichtliche Erinnerung heute das Deutschland-Bild der Ukrainer?

Doroshchuk: Es hängt von der Generation ab. Für die "Kriegsgeneration" gehört die Erinnerung an die NS-Verbrechen verständlicherweise zum Deutschlandbild. Doch viele Überlebende betonen, dass die nachfolgenden Generationen keine Schuld für die Taten ihrer Vorfahren trifft. Jedoch tragen sie die Verantwortung dafür, dass diese Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten.

Für die jungen Ukrainer ist das Deutschlandbild von wirtschaftlichen Erfolgen und politischer Stabilität geprägt. Deswegen hoffen gerade junge Menschen auf die Unterstützung von Deutschland, wenn es um die Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine und das Vorantreiben der europäischen Integration geht.

KNA: Die letzten Zeitzeugen und Überlebenden sterben. Wie kann die Erinnerung an die Vergangenheit wach bleiben und was kann die heutige Generation daraus für die Zukunft lernen?

Doroshchuk: Ein Holocaust-Überlebender hat einmal gesagt: "Das Schlimmste ist das Vergessen". Unsere Aufgabe ist es, so vielen Jugendlichen wie möglich diese, vielleicht letzte, Chance zum persönlichen Gespräch mit Zeitzeugen zu geben. Viele Jugendliche bezeichnen sich als «Zeugen der Zeitzeugen» und sehen es als ihre Pflicht, ihren Familien, Freunden und Bekannten von diesen Begegnungen zu berichten und die Erinnerung an die NS-Verbrechen weiterzutragen.

Für junge Menschen, vor allem in Deutschland, sind Frieden und Demokratie selbstverständlich. Aus den Gesprächen mit Überlebenden erfahren sie, wohin Intoleranz und Fremdenhass führen können. Gerade jetzt, wenn Fremdenfeindlichkeit und rechtsmotivierte Gewalttaten in ganz Deutschland stark zunehmen, ist es wichtig, dass sich junge Menschen damit beschäftigen und sich dagegen wehren.


Quelle:
KNA