Der 11. September hat das Sicherheitsgefühl dauerhaft verändert

Trauma aus der Ferne

Einstürzende Hochhäuser, Trümmer, Tote und ganz viel weißer Staub: Die Bilder vom Terroranschlag am 11. September 2001 wirken auch in Deutschland lange nach. Forscher beobachten seither, wie sich die gefühlte Sicherheit verändert hat

Autor/in:
Paula Konersmann
11.September: Eine Flagge inmitten der Trümmer  / © Beth A. Keiser (dpa)
11.September: Eine Flagge inmitten der Trümmer / © Beth A. Keiser ( dpa )

Aiman Mazyek ist keine Ausnahme. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) weiß noch genau, wie er den 11. September 2001 erlebt hat: "Mein Schwager rief uns an und sagte nur: 'Seht fern!'", erinnert sich Mazyek. "Ich rannte die Treppe runter ins Wohnzimmer - und was ich auf dem Bildschirm sah, schien unwirklich, zu grausam, um wahr zu sein."

Was der ZMD-Vorsitzende in seinem Buch "Was machen Muslime an Weihnachten?" beschreibt, haben viele Menschen in Deutschland so oder ganz ähnlich erlebt. Und jeder weiß auch heute, 15 Jahre später, noch Details von diesem zunächst sonnigen Septembertag - er hat sich "in das kollektive Gedächtnis" eingebrannt, wie Mazyek schreibt.

Im gemeinschaftlichen Gedächtnis

Aus dem gemeinschaftlichen Gedächtnis bezieht laut Historikern jede Gesellschaft und jede Epoche ihr Selbstbild. Gedenktage und -stätten, das mediale und öffentliche Erinnern an Tage wie den 11. September 2001, tragen dazu bei. Der französische Historiker Pierre Nora bezeichnete die heutigen Gedächtnisorte einmal als "flüchtige Heiligtümer in einer Gesellschaft der Entheiligung": Sie entstünden aus dem Gefühl heraus, dass es kein spontanes Gedächtnis gebe, dass man Archive schaffen, an den Jahrestagen festhalten, Feiern organisieren müsse.

Inszenierte Feiern und breite Berichterstattung wird es auch in diesem Jahr wieder geben, zu einem "halbrunden" Jahrestag wie dem 15. erst recht. Die Folgen der Ereignisse von 2001 machen sich jedoch auch jenseits dieses Gedenkens bemerkbar. Das Sicherheitsgefühl aller Menschen habe sich seither grundlegend verändert, sagt der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke. "Niemand hatte es für möglich gehalten, dass es jemals einen solchen Anschlag in New York geben könnte", sagt er.

Angriff auf die Seele

Insofern handle es sich nie nur um einen Angriff auf eine Stadt oder ein bestimmtes Gebäude, so Lüdke, sondern "auch auf die Seele der Menschen". Durch den 11. September sei der breiten Öffentlichkeit so erstmals bewusst geworden, "dass im Grunde jeder und überall Opfer eines Terroranschlags werden kann".

Seither haben mehrere Studien belegt, dass die psychische Belastung nach derartigen Ereignissen auch für Menschen hoch sein kann, die tausende Kilometer entfernt waren. Hinzu kommt die immer schnelle Berichterstattung - Terror in Echtzeit. Lüdke: "Dadurch kommt ein Ereignis viel näher und wird viel emotionaler wahrgenommen." Der schnelle Austausch habe zweifellos klare Vorteile. Aber auf die Risiken, etwa die anhaltende Belastung durch ständiges Betrachten von Bildern der Gewalt, wird nach Einschätzung des Trauma-Experten zu wenig hingewiesen.

Gleichbleibendes Angstniveau

Die Soziologin Daniela Schiek bestätigt, dass das Gefühl der Betroffenheit nicht allein davon abhängt, ob jemand persönlich vor Ort war. "Der 11. September hat insofern eine neue Qualität des Terrors in die westlichen Gesellschaften gebracht, als er zivile Räume wie Transportmittel betroffen hat", erklärt die Bielefelder Forscherin. Das habe sich seit dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" im Januar 2015 erneut ausgeweitet: Auch Räume, die zuvor als sicher galten, etwa Cafes, könnten nun betroffen sein, so die gemeinschaftliche Erfahrung.

Der Terror ist näher gekommen - geografisch und gefühlt. Das beeinflusst laut Lüdke die sogenannte Angstrichtung der Menschen. "Das Angstniveau bleibt gleich, doch die Richtung verändert sich: Mal hat man Angst um die Kinder, mal vor Arbeitslosigkeit, mal vor einem Terroranschlag", erläutert er. Nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November habe sich in Deutschland ein mulmiges Gefühl breit gemacht, das bis heute nachwirke. Der Psychologe wirbt dennoch für Besonnenheit: "Die Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, ist äußerst gering."

Mehr Angst als vorm Rauchen

Situationen, in denen viele Menschen auf einmal ums Leben kommen, nennen Psychologen "Schockrisiken". Sie machen Menschen mehr Angst als etwa die Folgen von Passivrauchen, sagte der Psychologe Gerd Gigerenzer kürzlich der "Apotheken Umschau". In unterschwelliger Angst liege indes auch eine Chance, so der Experte: "Ohne Angst können Sie keinen Mut haben. Den Mut, nicht zu Hause zu bleiben."


Quelle:
KNA