Alevitische Gemeinde zur Entwicklung in der Türkei

Eine Zwickmühle

Tausende Festnahmen und jetzt noch Ausreiseverbote für Akademiker: Die Türkei greift nach dem Putschversuch hart durch. Ismail Kaplan von der Alevitischen Gemeinde in Hamburg ist zurzeit in der Türkei und sieht die Entwicklung mit Sorge.

Polizeipräsenz in Istanbul / © Marius Becker (dpa)
Polizeipräsenz in Istanbul / © Marius Becker ( dpa )

domradio.de: Sie sind auch Akademiker. Fühlen Sie sich jetzt betroffen?

Ismail Kaplan (Vertreter der Alevitischen Gemeinden in Hamburg): Das ist sehr erschreckend und eine neue Dimension der Machtübernahme von Präsident Erdogan.

domradio.de: Was hören Sie von Ihren alevitischen Glaubensbrüdern und -schwestern in der Türkei? Werden diese jetzt auch verfolgt?

Kaplan: Sie werden nicht als Aleviten verfolgt, sondern die Bevölkerung, insbesondere die Anhänger von der Regierungspartei Erdogans, setzen die Aleviten mit den Putschisten gleich. Sie demonstrieren auf den Straßen der Großstädte und versuchen auch alevitische Gegenden anzugreifen. Aber die Aleviten haben nichts mit diesem Versuch der militärischen Machtübernahme zu tun. Wir sind immer dafür, dass demokratische Regeln eingehalten werden, egal in welcher Richtung. Als Alevit bin ich gegen eine Regierungsübernahme durch Gewalt. Aber jetzt sind die Aleviten in der Türkei in der Zwickmühle, weil die Regierung sie als Oppositionsgruppe ins Visier nimmt.

domradio.de: Warum sind gerade Aleviten der türkischen Regierung ein Dorn im Auge?

Kaplan: Es geht um unterschiedliche Auffassungen vom Islam. Erdogan und seinen Anhängern sind die Aleviten ein Dorn im Auge, weil sie nicht dem orthodoxen Islam folgen, sondern ein anderes Islamverständnis haben. Wir haben eine Lehre, die die Menschenwürde immer in den Vordergrund stellt. Wir haben auch ein anderes Gottesverständnis und andere Gebetsregeln. Wir legen darauf Wert, dass wir eigene Glaubensgrundsätze haben.

domradio.de: Wie ist die Situation der Aleviten in Deutschland?

Kaplan: Ich habe im Moment keine Informationen von Übergriffen auf Aleviten in Deutschland. Aber es ist durchaus möglich, dass Erdogan-Anhänger das auch versuchen. Aber in Deutschland, in einem demokratischen Staat, sind die Menschen sicherer als in der Türkei, das muss man so sagen.

domradio.de: Kann es sein, dass jetzt sehr viele Aleviten versuchen, die Türkei zu verlassen?

Kaplan: Wenn die türkische Regierung ihre Politik weiterhin verfolgt, alle Leute in einen Topf zu werfen und zu sagen, die sind gefährlich, dann kann ich mir vorstellen, dass ein Teil der Aleviten versuchen wird, das Land zu verlassen. Aber ich hoffe, dass die Regierung zur Vernunft kommt und nur die Putschisten vor Gericht stellt und nicht all die anderen Leuten ohne Grund.

domradio.de: Ist Erdogan überhaupt noch zu stoppen?

Kaplan: Wir haben auch die Furcht, dass Erdogan alle Macht an sich zieht, aber das wird nicht so ohne weiteres möglich sein. Dann müsst er alle Oppositionelle ins Gefängnis bringen, und das ist praktisch unmöglich. Aber die Befürchtung habe ich auch, dass er das totalitäre Regime aufbauen will.

Das Interview führte Birgitt Schippers


Quelle:
DR