Inszenierter Jubel für Erdogan nach dem Putschversuch?

Viele fürchten jetzt einen Bürgerkrieg

Wie geht es in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch weiter? Präsident Recep Tayyip Erdogan fährt verbal ein harte Linie und ruft weiter zu Protesten gegen den Putschversuch auf. Doch wie sieht es wirklich mit der Unterstützung des Volkes aus?

Autor/in:
Heinz Gstrein
Jubelnde Türken auf der Straße / © Sedat Suna (dpa)
Jubelnde Türken auf der Straße / © Sedat Suna ( dpa )

Die Erhebung von Teilen der Luftwaffe und eines, allerdings kleinen Teils der Bodentruppen gegen die immer autoritärere Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan ist auch am Sonntagabend noch nicht zu Ende. Sogar die Regierung musste zugeben, dass sich in und um Istanbul weiter "Widerstandsnester von Putschisten" halten. Nach oppositionellen Quellen geht es dabei vor allem um die Militärakademie am Bosporus.

Jubler wechseln die Seite

Eltern von Kadetten hörten über Mobilfunk von ihren Söhnen: "Wir werden bis zum letzten Blutstropfen für eine freie Türkei ohne Erdogan kämpfen." Keine Rede kann hingegen davon sein, dass der militärische Staatsstreich am Widerstand des "erdogantreuen Volkes" gescheitert sei. Viele von jenen, die mit türkischen Fahnen und Jubelrufen durch Istanbul marschierten, hatten vorher den Putschisten zugejubelt - so lange sie die Oberhand hatten.

Atmosphäre der Angst

Baris Ince, Journalist unter der Anklage, Erdogan als Dieb bezeichnet zu haben, sieht die Lage so: "Die Proteste gegen den Putschversuch sind orchestriert. Es sind neben den Konservativen viele Islamisten, die jetzt auf die Straße gehen." Präsident Erdogan und Premierminister Yildirim hätten am Sonntagabend weiter zu Protesten gegen den Putschversuch aufgerufen. Demokraten und liberale Bürger nähmen daran nicht teil, sondern warteten zu Hause und fragten sich, wie es weitergehen wird.

"Wir sind ein gespaltenes Land." Das in einen Bürgerkrieg stürzen könnte: "Es herrscht eine Atmosphäre der Angst", sagt Ince. "Was nach breiter Unterstützung aus der Bevölkerung aussieht, sind zu einem großen Teil islamistische Gruppen. Viele fürchten jetzt einen Bürgerkrieg." 

Inszenierte Erklärung aller kirchlichen und religiösen Oberhirten?

Fragezeichen gibt es inzwischen auch zur vom staatlichen türkischen Religionsamt Diyanet veröffentlichten Erklärung aller kirchlichen und religiösen Oberhirten zur Verurteilung des gewaltsamen Umsturzversuches. Jedenfalls haben sich Istanbuls griechisch-orthodoxer Patriarch Bartholomaios I. und Oberrabiner Ishak Haleva bereits davon distanziert. Sie hätten bereits vor der Putschnacht mit Blick auf den Anschlag in Nizza eine Erklärung gegen den Terrorismus abgegeben. Diese wurde dann von Ankara auf die militärischen Umstürzler umgemünzt.

Die Besorgnis bei religiösen Minderheiten scheint jedenfalls zu wachsen. In Istanbuls aschkenasischer "Schneider-Synagoge" von Kataköy meinte jedenfalls am Sabbat-Abend ein alter Jude, der aus Nazi-Deutschland in die Türkei gekommen war, jetzt aber ungenannt bleiben will: "Diese Vorgänge erinnern mich an das Hitler-Attentat von 1944. Besonders, was die grausame Rache an den Männern des 20. Juli betrifft. Auch jetzt werden oppositionelle Militärangehörige der Volkswut preisgegeben, von ihren Panzern heruntergerissen, verprügelt und zerstampft."

Kritiker werden aus dem Weg geräumt

Die Professorin für Gerichtsmedizin an der Universität Istanbul, Sebnem Korur Fincanci, ist eben erst aus der Haft entlassen worden, nachdem sie sich zusammen mit Journalisten und Menschenrechtlern für die von Erdogan schon extrem eingeschränkte Pressefreiheit eingesetzt hatte. "Die ersten sieben Tage war ich in Isolationshaft. Die komplette Stille ist verstörend, weil man plötzlich alles hört, beim kleinsten Geräusch zusammenschreckt", berichtet sie. Später sei sie mit Frauen von verschiedenem oppositionellen Hintergrund eingesperrt worden: Kurdinnen, Linksaktivistinnen, Anwältinnen von politisch Verfolgten. "Da hörte ich von vielen Fällen von Gewalt und Folter!" 

Sebnem Fincanci fürchtet, dass das türkische Regime "alle, jede und jeden, der Kritik übt, aus dem Weg räumen wird". Nach dem Scheitern der militärischen Erhebung "bestraft Erdogan nun alle, die diese ermöglicht haben. Er will die Türkei nur noch allein regieren!"

Dazu noch einmal der Dissident Baris Ince: "Es wird noch schwerer für Journalisten, ihre Arbeit zu machen. Erdogan will auch die Medien kontrollieren. Dank des Putschversuchs hat er jetzt eine starke Rechtfertigung, um das politisch durchzusetzen."


Quelle:
KNA