Deutscher Diakon in London zum Attentat auf Politikerin

Schockstarre in Großbritannien

Trauer um Jo Cox. Wenige Tage vor dem Votum über den EU-Verbleib Großritanniens, wurde die 41-jährige Politikerin ermordert. "Das Land befindet sich in einer Schockstarre", sagt der Diakon der deutschsprachigen Gemeinde in London.

Trauer um Politikerin Jo Cox / © Hannah Mckay (dpa)
Trauer um Politikerin Jo Cox / © Hannah Mckay ( dpa )

domradio.de: Wie hat Großbritannien auf die Nachricht von dem Attentat auf Jo Cox reagiert?

Stephan Arnold (Diakon der deutschsprachigen katholischen Gemeinde St. Bonifatius in London): Man hat den Eindruck, dass das Land in eine Art Schockstarre verfallen ist. Die Nachrichten sind voll mit dem Thema. Der momentane Wahlkampf um den "Brexit" ist ausgesetzt. Es finden heute dazu keine Veranstaltungen statt und im Fernsehen gibt es im Gegensatz zu den vergangenen Wochen auch keine Diskussionen darüber. Es sind insgesamt  – und dabei ist es egal, ob es Befürworter oder Gegner des "Brexit" sind – alle kollektiv geschockt über die Gewalttat, die da passiert ist.

domradio.de: Glauben Sie, dass das Attentat auf die Entscheidung Großbritanniens zum Verbleib oder Austritt aus der EU Einfluss nehmen wird?

Arnold: Es ist immer eine schwierige Frage, was den einzelnen beeinflusst. Ich denke, dass solche Ereignisse eine Auswirkung auf Entscheidungen haben - gerade wenn sie so kurz vorher passieren. In welche Richtung das jetzt gehen wird, ist allerdings spekulativ. Das ist vielleicht eher ein Thema für die Meinungsforscher, daraus Schlüsse zu ziehen.

domradio.de: In der Vergangenheit hat sich die Church Of England häufig zu politischen Themen geäußert, beispielsweise als es 1975 darum ging, ob Großbritannien in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bleiben soll. Jetzt gibt es verschiedene Initiativen mit verschiedenen Auffassungen: Christians for Britain oder Christians for Europe, also Christen für Großbritannien oder Christen für Europa?

Arnold: Das drückt ganz gut die momentane Situation im Land aus, dass sich die Trennlinie von Austrittsbefürwortern und Austrittsgegnern quer durch die Gesellschaft zieht. Das ist also keine Frage der politischen Parteien und auch keine Frage der christlichen Kirchen, wo man einer Meinung wäre. Vielmehr sind die Parteien in dieser Frage gespalten und die Kirchen, die Gläubigen eben auch. Es gibt einige, die für einen Austritt sind, es gibt andere, die eher dagegen sind. Die Spitzen der Kirchen haben sich eindeutig geäußert. Sowohl der Erzbischof von Canterbury als auch die katholische Bischofskonferenz von England und Wales sind klar für einen Verbleib in der Europäischen Union. Aber bei den Gläubigen sieht das unterschiedlich aus.

domradio.de: Sie sind Diakon der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in London. Beteiligen sich die Gläubigen auch dort lebhaft an der Diskussion um den "Brexit"?

Arnold: Innerhalb der deutschen Gemeinde wird das schon diskutiert, weil ja einige davon betroffen sind – vor allem diejenigen, die nicht nur eine Zeit lang in England leben, sondern nach England gezogen sind, um hier zu bleiben. Für die ist das schon eine Existenzfrage. Was wird sein, wenn Großbritannien austreten sollte? In den Gesprächen mit den englischen Freunden und Mitchristen sind wir immer etwas zurückhaltend, weil wir gemerkt haben, dass es sich hier um eine wirklich englische Entscheidung handelt. Wenn wir direkt gefragt werden, dann versuchen wir schon für einen Verbleib zu werben. Ein offensives Vorgehen wirkt aber eher kontraproduktiv.

domradio.de: Haben Sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht, wenn Sie sich positioniert haben?

Arnold: Schlechte Erfahrungen nicht direkt, aber man merkt eine gewisse Reserviertheit, wenn man sich dort eindeutig positioniert, so nach dem Motto: "Das ist unsere Entscheidung, haltet ihr euch raus". Das sind aber keine schlechten Erfahrungen im Sinne von Streit oder Auseinandersetzungen. Deshalb sind wir eher defensiv. Wenn wir gefragt werden, dann äußern wir unsere Meinung, dass wir es gut fänden, wenn Großbritannien in der EU bleibt, zumal das nicht nur eine Wirtschaftsfrage, sondern letztlich auch eine Friedensfrage ist.

Das Interview führte Tommy Millhome.


Quelle:
DR