EU-Politiker Giegold: Europa braucht Neustart

Entsprechend christlicher Werte

Zu den in Deutschland wohl bekanntesten Gesichtern des Europaparlaments zählt Sven Giegold. Der Grünen-Politiker ist seit 2009 Abgeordneter. Der Protestant erläutert unter anderem, warum für ihn politisches und kirchliches Engagement zusammengehören.

Sven Giegold / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Sven Giegold / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

KNA: Herr Giegold, täuscht der Eindruck oder steckt die EU tatsächlich in einer der tiefsten Krisen seit ihrer Gründung?

Giegold: Europa lässt sich von Krisen treiben. Offensichtlich werden in den Augen der Bürger die zentralen Probleme nicht gelöst, denken Sie an die Eurokrise oder die Flüchtlingskrise. Es gibt zwar ständig Krisengipfel - aber die großen Fragen, die die Menschen haben an Migration, an wachsende soziale Ungleichheit werden nicht beantwortet.

KNA: Vielleicht ist ja weniger Europa die Lösung - Stichwort Brexit.

Giegold: Nein. Es ist offensichtlich, dass sich diese Fragen nur durch ein starkes gemeinsames Europa lösen lassen. Aber davor schrecken sowohl Frau Merkel als auch Herr Hollande und die meisten Staats- und Regierungschefs zurück. Es gibt keine Bereitschaft zu einem neuen europäischen Aufbruch. Und die Bürger verlieren irgendwann den Glauben an das Projekt. Aber wir dürfen Europa nicht rechten oder auch linken Populisten überlassen.

KNA: Wenn die Politiker nicht können oder wollen, wer mag dann neue Impulse setzen. Die Kirchen?

Giegold: Dass ein geeintes Europa Frieden bringt, reicht allein nicht aus, um frischen Wind in das Projekt EU zu bringen. Auch wenn das die große Errungenschaft ist, die auch das Christentum mit der europäischen Idee tief verbindet. Aber es ist viel mehr als das.

KNA: Nämlich?

Giegold: Die europäische Idee entspricht auch deshalb christlichen Ideen, weil sie Grenzen überwindet und Menschen letztlich, zumindest in Europa, zu Gleichen macht. Das ist vielleicht die Vorform einer anstehenden Weltgesellschaft, wo jeder Mensch gleiche Rechte und irgendwann auch Pflichten gegenüber der Gesamtgemeinschaft hat.

KNA: Kritiker werden einwenden, dass das angesichts der aktuellen Probleme eher abgehoben klingt.

Giegold: Damit man Europa wieder mehr zutraut, braucht man in Europa wieder mehr Demokratie und mehr Mitspracherechte auf der einen Seite und zweitens eine klare Orientierung auf soziale Ziele.

KNA: Und da kommen die Kirchen ins Spiel?

Giegold: Die haben doch ein großes Kompetenzplus und viel zu sagen: Dass die Schwächsten nicht zurückgelassen werden, dass die Ungleichheit nicht zu groß wird. Europa braucht das für seine Legitimation.

KNA: Warum?

Giegold: Die Menschen verstehen nicht, warum auf der einen Seite in den Krisenstaaten der Eurozone die Armut zunimmt, auf der anderen Seite wir es nicht hinbekommen, die Steueroasen zu schließen. Dass die Ungleichheit begrenzt wird, passt eben genau auch in die katholische Sozialethik. Ich glaube von daher, dass gerade auch die katholische Kirche hier einen wichtigen Beitrag leisten könnte, in welche Richtung sich Europa entwickeln müsste.

KNA: Sie selbst werben für einen "Europäischen Kirchentag" - was steckt dahinter?

Giegold: Die Idee einer "European Christian Convention" ist ein gemeinsames Fest des Glaubens. Das schließt mit ein, sich dann auch der gemeinsamen Weltverantwortung in Europa zu stellen.

KNA: Tut man das nicht auch schon auf Katholikentagen, evangelischen Kirchentagen, beim Weltjugendtag oder auf Taizé-Jugendtreffen?

Giegold: Natürlich, aber in einer Breite, wie sie ein "Europäischer Kirchentag" anstrebt, gibt es so etwas noch nicht. Wir haben bisher keinen Ort, wo die Gläubigen und Aktiven aus den Gemeinden europaweit zusammen kommen können - auf der Basis gegenseitiger Toleranz. Das wollen wir schaffen.

KNA: Bis wann?

Giegold: 2022/2023 wird es soweit sein, getragen von christlichen Organisationen, Kirchen und einem großen Freundeskreis von Einzelpersonen, und der konstituiert sich allmählich.

KNA: Wie reagiert Ihre Partei auf derlei Initiativen?

Giegold: Bei den Grünen gibt es in Fragen der Religion durchaus verschiedene Meinungen. Ich persönlich halte beispielsweise die Kirchensteuer für ein sinnvolles ordnungspolitisches Instrument - wobei meiner Ansicht nach aus Gründen der Steuergerechtigkeit Bürger, die keiner Kirche angehören, den gleichen Betrag steuerabzugsfähig spenden können sollten wie Kirchenmitglieder.

KNA: Die Grünen haben im März ein Religionspapier vorgestellt - vermutlich keine leichte Übung.

Giegold: Da merkte man eine gewisse Spaltung in der Partei. Daher war spannend, in wie vielen Bereichen der Religionspolitik wir Kompromisse zwischen kirchennahen und -fernen Grünen erarbeiten konnten. Bei den Mitgliedern aus dem ländlichen Raum herrscht im Allgemeinen eine größere Offenheit gegenüber kirchlichen Positionen als in Teilen des urbanen Milieus. Manche sind religiös darin, keine Religion zu haben. Ich würde mir wünschen, dass das Papier eine Diskussion über das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat auslöst.

Nicht nur bei uns, sondern auch in den anderen Parteien. Denn der Staat muss der neuen religiösen Pluralität Rechnung tragen, ohne die bewährte Kooperation mit Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften zu beschädigen.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA