100 Jahre Sommerzeit-Umstellung

"Wenn es sechsen is, denn is nich sieben"

Den einen fehlt die Stunde Schlaf, die anderen genießen die langen Sommerabende: Vor 100 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, drehte Deutschland als erstes Land der Welt an der Zeit - und stellte die Uhren eine Stunde vor.

Autor/in:
Nina Schmedding
Spenden im Schlaf - die Wecker-App der Caritas / © Patrick Pleul (dpa)
Spenden im Schlaf - die Wecker-App der Caritas / © Patrick Pleul ( dpa )

"Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung. Der 30. September 1916 endet eine Stunde nach Mitternacht im Sinne dieser Verordnung." So steht es im "Deutschen Reichsgesetzblatt" vom 6. April 1916. Grund dafür: Die deutsche Regierung, die sich mitten im Ersten Weltkrieg befand, wollte Energie sparen - oder vielmehr das "kriegswichtige" Material dazu wie Kohlen und Petroleum. Vor 100 Jahren drehte Deutschland als erstes Land der Welt an der Zeit - und stellte die Uhren eine Stunde vor.

"Eine Stunde vor oder eine Stunde zurück?"

Was auch heute am Umstellungstag immer wieder für Verwirrung und wiederkehrende Diskussionen sorgt ("Eine Stunde vor oder eine Stunde zurück?"), war für die Menschen damals vor allem ein historisches Ereignis. Ein eindrückliches Zeitzeugnis findet sich in einem nach dem Zweiten Weltkrieg lange verbotenen Band der deutsch-jüdischen Kinderbuchautorin Else Ury (1877-1943), den sie 1922 veröffentlichte und der 2014 in einer kommentierten Auflage erstmals wiedererschien. Ein ganzes Kapitel hat sie in dem patriotischen Kinderroman "Nesthäkchen und der Weltkrieg" der Einführung der Sommerzeit gewidmet und erzählt, wie dieses Ereignis die Berliner Arztfamilie rund um das Nesthäkchen Annemarie Braun durcheinanderbrachte:

"Großmama fand sich nicht mehr in der Welt zurecht. Sie hatte sich in vieles fügen gelernt, was sie ihr ganzes Leben lang anders gewohnt war. Aber dass der Krieg nun auch die Zeit noch verändern sollte, das wollte ihr nicht in ihren alten Kopf. 'Ich bin altmodisch, ich lebe ruhig weiter, wie ich nun schon fast siebzig Jahre gelebt habe', äußerte sie sich. 'Ich ooch, jnädije Frau, ich mach den Rummel nich mit', pflichtete Hanne ihr bei. 'Wenn es sechsen is, denn is nich sieben, nee, ich bin doch nich janz und jar varrickt!'"

Die Berliner Köchin Hanne macht ihrem Herzen hier im ehrlich-rauhen Ton Luft - und befindet sich damit bis heute in guter Gesellschaft. Denn wie sinnvoll die Maßnahme ist, die nach der Einführung im Laufe der Jahre immer wieder abgeschafft wurde - um dann wieder eingeführt zu werden, bleibt umstritten: Laut Bundesumweltamt etwa spart man während der Sommerzeit zwar abends elektrisches Licht, jedoch wird dann morgens mehr geheizt, besonders in den kalten Monaten März, April und Oktober.

Mehr Heizkosten, Schlafstörungen, verwirrte Kühe

Weitere negative Auswirkungen der Umstellung stellen verschiedene Experten immer wieder fest: Mediziner bemängeln, dass die Stunde fehlenden Schlafs besonders für Menschen mit Schlafstörungen schädlich ist. Aus der Landwirtschaft ist bekannt, dass Kühe bis zu zwei Wochen benötigen, um sich auf die neuen Melkzeiten umzustellen.

Verkehrsunfälle sollen sich laut Studien am Montagmorgen nach der Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit besonders häufen. Sogar auf die Religion hat die Zeitumstellung Auswirkung, da sich jüdische und muslimische Gebetszeiten nach dem Sonnenstand richten - was zu dem kuriosen Umstand führt, dass sich die Öffnungs- und Gebetszeiten der Jerusalemer Grabeskirche und der Geburtskirche Bethlehem auch im Sommer unverändert nach der Normalzeit richten, während außerhalb der Kirche die Sommerzeit gilt.

Gebetszeiten nach Sonnenstand gegen Normalzeit

Dem deutschen Vorbild von 1916 folgten unzählige Länder: Drei Wochen nach der Einführung in Deutschland drehten etwa auch die Briten an der Zeit, ebenso Frankreich - "Deutschlands Feinde machten es sämtlich nach", heißt es bei Else Urys "Nesthäkchen". 1919 schaffte Deutschland die ungeliebte Kriegsmaßnahme wieder ab - bis sie im Zweiten Weltkrieg 1940 erneut in Erwartung einer Energieeinsparung wiedereingeführt wurde. Auch die Ölkrise von 1973 zog ihre Spuren nach sich: 1980 führten beide deutsche Staaten wiederum die Sommerzeit ein, 1996 wurden die Regelungen in der Europäischen Union vereinheitlicht.

Dass man sich an alles gewöhnen kann, wusste vor 100 Jahren bei "Nesthäkchen" schließlich auch Köchin Hanne. Nicht lange, da meinte sie ausgesöhnt: "Es is wirklich jar nich so ohne, wenn man sich so'n schönen Maiabend auch mal bei Tage besieht!" Den ersten helleren Abend 2016 kann man übrigens am 27. März genießen.

 


... der Grabeskirche in Jerusalem / © Bernd Weißbrod (dpa)
... der Grabeskirche in Jerusalem / © Bernd Weißbrod ( dpa )

Geburtskirche in Bethlehem / © Debbie Hill (epd)
Geburtskirche in Bethlehem / © Debbie Hill ( epd )
Quelle:
KNA