"Schattenbericht 10 Jahre Hartz IV" vorgestellt

"Politik muss das Thema angehen"

In Berlin hat die Nationale Armutskonferenz ihren "Schattenbericht 10 Jahre Hartz IV" vorgelegt. Ihr Sprecher Dr. Frank Johannes Hensel erläutert im domradio.de-Interview, wo die Ansatzpunkte für Verbesserungen liegen.

Hartz IV Symbolbild / © Jens Büttner (dpa)
Hartz IV Symbolbild / © Jens Büttner ( dpa )

domradio.de: Bundeskanzler Schröder erhob damals das Fördern und Fordern zur Maxime. Die Menschen sollten angehalten werden, sich schnell um einen neuen Job zu kümmern. Heute haben wir zwei Millionen Arbeitslose weniger als vor 10 Jahren. Das spricht doch dafür, dass dieses Konzept aufgegangen ist, oder?

Dr. Frank Johannes Hensel (Diözesancaritasverband im Erzbistum Köln): Ja, die wieder in Arbeit gekommenen Arbeitslosen sind von der wachsenden Konjunktur mitgerissen worden. Aber die Millionen verfestigt Arbeitslosen sind davon unberührt. Das ist etwas, was das Gesetz in keiner Weise angegangen hat. Die werden jetzt nur umso schneller in Armutsverhältnisse zurückgeworfen. Das ahnt auch jeder, der schon länger keine Arbeit mehr hat, denn Hartz IV schlägt ja schon im zweiten Jahr der Arbeitslosigkeit mit einem sehr, sehr geringen Regelsatz zu. Dieser Regelsatz reicht, wenn man dann auch noch ein Kind zu versorgen hat, nicht über den Monat.

domradio.de: Wie passt das denn zusammen, dass es weniger Arbeitslose und ALG-II-Empfänger gibt und Sie trotzdem beobachten, dass sich das Problem der Armut in Deutschland verschärft hat?

Dr. Frank Johannes Hensel: Ja, das ist enorm. Zum einen gibt es die Langzeitarbeitslosen und zum anderen die Alleinerziehenden, die so gering verdienen, dass sie mit ihrem Lebensunterhalt unter das Sozialhilfeniveau fallen würden. Die alle müssen aufgestockt werden. Das sind mittlerweile wahre Massen. Wir können das einmal in Zahlen ausdrücken: Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armutsverhältnissen auf und fast schon jeder Zehnte lebt in solchen Armutsverhältnissen.

domradio.de: Wie kommt es, dass sich die Kinderarmut hat in den vergangenen zehn Jahren so stark erhöht hat?

Dr. Frank Johannes Hensel: Es gab mehrere Gesetze, die dazu geführt haben, dass sich beispielsweise die Situation für Alleinerziehende sehr verschlechtert hat. Rund die Hälfte der Kinder, die in Armutsverhältnissen leben, hat einen alleinerziehenden Elternteil. Dabei wird die Hälfte aller zu zahlenden Unterhaltsleistungen vom Partner oder der Partnerin gar nicht gezahlt. Der Grund dafür ist allerdings nicht ganz klar. Es kann sein, dass der Niedriglohn die Zahlung gar nicht hergibt. Normalerweise springt da aber der Staat mit einem zeitlich begrenzten Unterhaltsvorschuss ein. Allerdings leben die Kinder zum Glück nun ja länger als die begrenzten sechs Jahre. Dann ist automatisch der ganze Unterhalt weg und der alleinerziehende Partner muss es alleine stemmen. Damit ist man dann oft arm.

domradio.de: Warum ignoriert die Politik das Problem?

Dr. Frank Johannes Hensel: Weil sie sich an der Gesamtzahl der Arbeitslosen berauscht. Letztlich ist es ja ein gutes Sparmodell, wenn man die Leute unabhängig davon, was sie je geleistet haben, auf das Sozialhilfeniveau herunter drängt und wenn man das dann politisch aushält. An der Stelle braucht man das Geld nicht in die Hand zu nehmen. Tatsächlich führt es aber zu der Verfestigung der abgehängten und ausgegrenzten Lebenssituation. Für die Kinder ist das leider von einer lebenslangen Tragweite, denn dieses Gefühl, hinten an zu stehen, torpediert auch bekanntermaßen die Bildungschancen. Damit wird man sein ganzes Leben lang - abgesehen davon, dass man es in der Familie auch nicht mehr anders erlebt hat - belastet.

domradio.de: Sie haben heute als Nationale Armutskonferenz ihren Schattenbericht vorgelegt. Was ist das?

Dr. Frank Johannes Hensel: Das ist eine Zusammenstellung von Daten und Fakten, die wir uns gar nicht selber ausdenken. Das ist kein neues empirisches Studienmaterial, sondern es sind ganz offizielle Zahlen vom statistischen Bundesamt, von den Ministerien und Fallberichte. Diese Fallberichte thematisieren, wie es einzelnen Menschen mit Hartz IV geht. Einige Experten, wie der Berliner Erzbischof Koch und Hochschulwissenschaftler äußern sich zu den Fallberichten. Die Experten erklären sehr genau, woran es liegt. Dazu gibt es die Lebensgeschichten, die deutlich machen, wie es ist, wenn man in einem Amt weiterverwiesen wird. Mittlerweile sind es ja ganze Truppen von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die dabei helfen müssen, die ganzen Ansprüche mit ihren Antragsformularen auch geltend zu machen. Das ist schon eine große Bürokratie, die da entstanden ist. Allein schon bei dem Bildungs- und Teilhabepaket für die Kinder gibt es acht verschiedene Zugänge. Das sind bürokratische Monster.

domradio.de: Was ist ihre Forderung an die Politik?

Dr. Frank Johannes Hensel: Man muss sich diese Armut wirklich vor Augen führen. Das ist keine kleine, sondern eine große abgehängte Gruppe mit sehr verfestigten Armutsverhältnissen. Das muss man politisch angehen. Die Kinderarmut kann man durchbrechen. Es gibt das zunehmende Verschulden beim Jobcenter. Mittlerweile sind ja schon 225.000 Menschen beim Jobcenter verschuldet. Das Jobcenter generiert sich momentan wie eine Darlehenskasse. Das liegt daran, dass es keine Einmalzuschüsse mehr gibt. Wenn eine Mietkaution zu stellen ist, eine Waschmaschine kaputt geht oder eine Stromrechnung aufgelaufen ist, dann ist man sofort unterhalb dessen, was man sich im Monat leisten kann. All das müsste man ausgleichen, indem man die Einmalhilfen wieder einführt, indem man das Bildungs- und Teilhabepaket abschafft und für die Kinder umlegt, so dass sie es auch wirklich erreichen können und nicht acht verschiedene Antragswege gehen muss. Das wären alles Dinge, die man leicht verändern könnte, wenn man es wirklich auf den Schirm nimmt.

Das Interview führte Aurelia Rütters


Quelle:
DR