Militärdekan befürchtet neue Flüchtlingswelle aus Afghanistan

"Es könnte ein Dammbruch-Effekt eintreten"

In der nordafghanischen Stadt Kundus liefern sich die Taliban und die Armee weiter heftige Kämpfe. Militärdekan Bernd Schaller war bis 2010 in dem Gebiet eingesetzt und befürchtet nun eine neue Flüchtlingswelle, wie er domradio.de erklärte.

Bild der Verwüstung nach einem Anschlag in Kundus / © Jawed Kargar (dpa)
Bild der Verwüstung nach einem Anschlag in Kundus / © Jawed Kargar ( dpa )

domradio.de: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie diese Berichte aus Kundus hören?

Bernd Schaller: Natürlich kommen da Bilder und Erinnerungen an die Zeit hoch, in denen ich vor Ort war. Das sind Bilder von Männern und Frauen, die den Dienst für unsere Bundeswehr und andere Streitkräfte verrichtet haben oder von Verwundeten und den gefallenen Soldaten, die wir in Kundus und der Umgebung zu beklagen hatten. Da kocht es natürlich emotional in mir.

domradio.de: Warum ist Kundus so eine umkämpfte Stadt? Ist sie strategisch besonders wichtig?

Bernd Schaller: Kundus ist im Nordteil Afghanistans so wichtig, weil hier sehr viel Reis angebaut wird. Früher hat man von der Region gesagt, sie sei der "Brotkorb Afghanistans". Es ist eine fruchtbare Gegend. Von daher hat die Region eine wirtschaftliche Bedeutung, und man trifft da eine Lebensader.

domradio.de: Es gibt das Wort vom "schwarzen Karfreitag" 2010 in Kundus, bei dem drei Bundeswehrsoldaten getötet wurden. Die Bundeswehr hat sich inzwischen aus Kundus zurückgezogen und das Lager 2013 geschlossen. Wenn Sie uns einmal mitnehmen in den Lager-Alltag, war Kundus für Sie als Militärdekan besonders im Vergleich zu anderen Einsatzgebieten?

Bernd Schaller: Ich kann nur von Kundus erzählen, weil ich in keinem anderen Gebiet eingesetzt war. Die deutschen Truppen waren ja beispielsweise auch in Faizabad. Das Lager wurde sogar noch früher zu gemacht. Auch in Masar-e Scharif waren deutsche Truppen, die dort als Regionalkommando stationiert waren und zum Teil unter neuem Namen auch immer noch sind.  Aber Kundus war eine Region, in der es früher relativ ruhig war und man gerade im Kontext mit Nichtregierungsorganisationen arbeiten konnte. Das kippte dann zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem das Lager beschossen wurde und die Kameradinnen und Kameraden, die draußen waren, plötzlich auf Sprengfallen fuhren. Das sind alles Erfahrungen, die man von den Amerikanern und den Briten kannte, sich aber nicht vorstellen konnte, von was für einer Heftigkeit man auf einmal selber betroffen ist.

domradio.de: Kundus ist jetzt die erste Stadt, die von den Taliban teilweise zurückerobert wurde. Was würde es bedeuten, wenn Kundus komplett an die Taliban fiele?

Bernd Schaller: Es wird versucht, hier wieder alte Systeme in Kraft zu setzen. Das heißt, dass die Taliban letztlich auch einen gewissen Machtanspruch für sich geltend machen wollen. Sie wollen gleichzeitig auch zeigen, dass die Gegenseite gar nichts im Griff hat und selbst die Hilfe von Außen keine langfristige Unterstützung ist. Die Botschaft lautet demnach, dass man auf sie, die Taliban, vertrauen soll und dass man nur mit ihnen auf eine gewisse Spur gebracht werden kann. Jeder, der dabei nicht mitmacht, muss die Härte ihrer Aktionen spüren.

domradio.de: Und auch jetzt hört man, dass diejenigen, die fliehen können, aus Kundus flüchten. Droht uns da möglicherweise noch eine neue Flüchtlingswelle aus dem Norden Afghanistans?

Bernd Schaller: Ich denke, da muss man kein Prophet sein, dass die Handlungen der Taliban eine entsprechende Wirkung haben. Es könnte sich ein Dammbruch-Effekt einstellen. Wir reden ja immer über Flüchtlinge und Flucht. Das sind Menschen, die eine Geschichte, eine Herkunft, eine Heimat haben. Da wird sich sicher eine Menge entwickeln, wenn den Aktionen der Taliban nicht Einhalt geboten wird. Was man so hört, ist es ja ziemlich schwierig, die Region um den Flughafen herum zu kontrollieren. Das wird nicht einfach. Ich denke, die Flüchtlingsthematik in Afghanistan ist so aktuell wie nie zuvor.

Das Interview führte Matthias Friebe

 

 

 

 

 


Quelle:
DR