SPD-Politikerin Malu Dreyer im Interview

"Mutiger beim Arbeitsrecht"

Seit einem halben Jahr ist Malu Dreyer rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin. Ein Gespräch über harte Verhandlungen zur Zukunft kirchlicher Kindergärten, den demografischen Wandel und den Ausbau der direkten Demokratie.

Malu Dreyer (dpa)
Malu Dreyer / ( dpa )

epd: Frau Ministerpräsidentin, sind Ihre ersten Monate im Amt so verlaufen, wie Sie es sich vorgestellt haben? Gab es Überraschungen oder Enttäuschungen?

Dreyer: Letzteres nicht. Weil ich nicht neu bin im politischen Geschäft, ist mir vieles sehr vertraut. Gleichzeitig konnte ich mir manches vorher nur abstrakt vorstellen. Zum Beispiel muss ich mich natürlich permanent zu allen aktuellen politischen Themen äußern können. Das macht mir großen Spaß, ist aber auch eine große Umstellung.

epd: Sie bereuen also nicht, dass Sie nicht katholische Religionslehrerin geworden sind?

Dreyer: Weder das, noch, dass ich Ministerpräsidentin geworden bin. Ich wollte ursprünglich Lehrerin werden und habe damals Theologie und Anglistik studiert. Aber das war die Zeit der Lehrerschwemme, und deshalb bin ich auf Jura umgestiegen. Ich habe viele Kollegen, die weitermachten, aber nie als Lehrer gearbeitet haben.

epd: Wie sind Sie zur Theologie gekommen?

Dreyer: Ich bin christlich erzogen und war sehr gläubig. Und irgendwie wollte ich schon immer das, wovon ich überzeugt bin, an andere weitergeben.

epd: Sie haben gesagt: "Ich war sehr gläubig". Spielt der Glaube für Sie keine Rolle mehr?

Dreyer: Doch. Aber ich war früher stärker auf die Kirche ausgerichtet. Ich bin nach wie vor ein gläubiger Mensch. Aber ich sehe manches in der Kirche auch kritisch.

epd: Die Kirche bestimmt ja auch nicht mehr die Sicht der Welt. Wie viel Einfluss hat sie noch?

Dreyer: Für die Wertevermittlung ist die Kirche nach wie vor außerordentlich wichtig. Dass sie keine so große Bedeutung mehr hat, liegt sicher nicht daran, dass Menschen nicht mehr nach Sinn suchen. Sinnstiftung ist und bleibt Aufgabe der Kirche. Diese nimmt sie auch wahr. Aber die Menschen sind heute sehr viel kritischer mit der Institution Kirche.

epd: Wie stehen Sie zu der Kritik, Kirchen hätten zu viele Privilegien?

Dreyer: Die Privilegien haben mit unserer Geschichte zu tun. Sie sind rechtlich festgeschrieben, im Grundgesetz und auch im Rahmen von Konkordaten und Staatskirchenverträgen. Wir haben glücklicherweise die Trennung von Kirche und Staat, aber es bestand immer ein großer Konsens, dass Religionsgemeinschaften und Religionsausübung gewollt sind. Unsere beiden großen Kirchen spielen dabei eine besondere Rolle. Ich finde, dazu kann man gut stehen.

epd: Auch zu den Privilegien beim Arbeitsrecht?

Dreyer: Da bin ich kritischer. Die Kirche hat natürlich die Freiheit, das selbst zu regeln. Aber es ist nicht mehr zu vermitteln, zumal die Kirche über Caritas und Diakonie viele weltliche Einrichtungen führt. Das tut sie zwar mit dem Anspruch, sie anders zu führen als andere, aber sie unterliegt genauso den Normen des Grundgesetzes. Und es gibt in jeder Einrichtung Tätigkeiten, die wenig mit Seelsorge und Glaubensauftrag zu tun haben. Ich erwarte mir hier von der Klage beim Bundesverfassungsgericht eine Klarstellung. Katholische und evangelische Kirchen sollten den Mut haben, beim Arbeitsrecht neue Wege zu gehen.

epd: Denken Sie, dass irgendwann islamische Gemeinschaften eine ähnliche Rolle spielen wie die christlichen Kirchen und Krankenhäuser oder Sozialstationen betreiben?

Dreyer: In unserem Bundesland ist die muslimische Gemeinschaft von großer Bedeutung. Deshalb muss es für Menschen mit muslimischem Glauben dort, wo sie leben, selbstverständlich Einrichtungen geben, die ihren Glauben repräsentieren. Das gehört zur Vielfalt unserer Gesellschaft.

epd: Kirchen und Land verhandeln über die Kindergartenfinanzierung. Werden die Kirchen entlastet?

Dreyer: Dazu sind wir in einem guten Dialog. Wir haben es bis jetzt immer geschafft, Lösungen zu finden. Wir sind aber in einer extrem schwierigen Situation. Die Schuldenbremse fordert uns heraus. Wir bauen an jeder Ecke Leistungen ab. Es gibt einen Kampf um finanzielle Ressourcen.

epd: Aber es würde teurer, wenn die Kirchen bei den Kindergärten aussteigen würden.

Dreyer: Stimmt. Das wollen wir auch nicht.

epd: In Rheinland-Pfalz liegen Kirchen und Landesregierung auch beim Thema Sonntagsschutz über Kreuz. Gibt es bei diesem Thema einen Kompromiss?

Dreyer: Ich glaube, dass die Differenzen nicht sehr groß sind. Wir hatten ein Anhörungsverfahren und müssen dessen Ergebnisse auswerten. In ein paar Wochen wird das Gesetz zum zweiten Mal ins Kabinett gehen. Dann werden wir erörtern, was geht und was nicht geht. Grundsätzlich stehen wir absolut zum Sonntagsschutz. Wir wollen nicht, dass sonntags überall Neuwaren verkauft werden. Der Charakter von Flohmärkten und traditionellen Märkten ist gestärkt worden. Für uns war es überraschend, dass es dagegen Einwände gibt.

epd: Glauben Sie angesichts von Bürgerbegehren und Wutbürgern daran, dass die repräsentative Demokratie für die Ewigkeit gemacht ist?

Dreyer: Ich bin fest davon überzeugt, dass die repräsentative Demokratie die Staatsform auch der Zukunft ist. Aber es ist genauso klar, dass den Leuten das auf Dauer nicht reicht. Wir müssen die repräsentative Demokratie durch Elemente direkter Demokratie ergänzen. Ich halte Volksbegehren und Volksentscheide für tolle Instrumente, die zu selten angewandt werden.

epd: Auch der demografische Wandel hat mit Beteiligung zu tun. Es gibt immer mehr Senioren. Werden die in Zukunft die Politik bestimmen?

Dreyer: Wir sollten dafür sorgen, dass es auch, aber nicht nur die Seniorinnen und Senioren sind, die die Politik bestimmen.

epd: Also keine Diktatur der Alten?

Dreyer: Den Begriff haben Sie verwendet. Aber junge Leute werden im Verhältnis sehr viel weniger werden. Wenn diese jungen Leute den Eindruck bekämen, dass ihre Anliegen in Rheinland-Pfalz nichts zählen, wäre das Land nicht mehr attraktiv für sie. Wir haben uns auch aus diesem Grund für das Wahlalter ab 16 eingesetzt. Aber natürlich wünsche ich mir, dass sich auch die Älteren fragen, was junge Menschen denken und wollen.

epd: Sie halten Generationenkonflikte also nicht für unausweichlich?

Dreyer: Nein. Aber es ist notwendig, dass ältere Menschen für die Belange der Jüngeren offenbleiben. Und das tun sie. Wenn Ältere gefragt werden, was sie sich wünschen, kommt spätestens an zweiter Stelle: Dass es meinen Kindern und Enkeln gut geht.

epd: In Rheinland-Pfalz wird zurzeit viel über den gemeinsamen Schulunterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder diskutiert. Gibt es da Grenzen?

Dreyer: Es gibt grundsätzlich keine Grenze für behinderte Kinder. Auch sie können ihren Weg gehen. So, wie nicht jedes Kind ohne Behinderung Abitur macht und studiert, wird es auch behinderte Kinder mit Abitur und Hochschulabschluss geben. Alles, was möglich ist, muss die Gesellschaft unterstützen.

epd: Werden irgendwann alle Förderschulen abgeschafft?

Dreyer: Die Frage nach den Förderschulen ist eigentlich überflüssig. Wir sagen: Das Elternwahlrecht zählt. Wenn Eltern wünschen, dass ihr Kind in eine Förderschule geht, wird es dort hingehen. Bei den Kindertagesstätten erleben wir aber die Entwicklung, dass es nur noch wenige Förderkindergärten gibt, alle anderen sind integrativ.

epd: Haben Sie eine Prognose, wann Behinderung nicht mehr als Problem angesehen wird?

Dreyer: Das ist ein Prozess über Generationen. Je mehr Kinder integrativ oder inklusiv aufwachsen, umso normaler wird es. Trotzdem wird es noch ein paar Jahre dauern, bis eine Gleichstellung erreicht ist. Die gibt es ja auch zwischen Männern und Frauen noch immer nicht, obwohl sie seit Beginn der Bundesrepublik im Grundgesetz steht.

epd: Apropos Gleichstellung; es wirkt so, als ob es zwischen den vier Ministerpräsidentinnen - zwei von der SPD und zwei von der CDU - bei sozialpolitischen Themen große Übereinstimmungen gibt. Existiert im Bundesrat so etwas wie eine Frauenriege jenseits der Parteigrenzen?

Dreyer: Christine Lieberknecht und Annegret Kramp-Karrenbauer waren wie ich Sozialministerinnen. Und auch Hannelore Kraft ist sehr sozial eingestellt. Wir vier Frauen verstehen uns einfach ganz gut.

Das Gespräch führten Klaus Koch und Karsten Packeiser.


Quelle:
epd