Leipziger Propst über das ökumenische Projekt "Klagezeit"

"Loslassen und in Gottes Hände legen"

Kirchen sollten Raum für Klage eröffnen. Das dachten sich zwei Leipziger Pfarrer und eine Theologin für ihr Format "Klagezeit". Der Propst der Leipziger Trinitatisgemeinde, Gregor Giele, erläutert im Interview die Hintergründe.

Autor/in:
Angelika Prauß
Klagewand vor dem Altar der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf (KNA)
Klagewand vor dem Altar der Propsteikirche in Leipzig / © Dominik Wolf ( KNA )

KNA: Herr Giele, warum ist Klagen so wichtig?

Giele: Klage heißt, es staut sich etwas in mir auf, das irgendwo hin muss, sonst platzt man. In der Corona-Zeit hat sich besonders viel angestaut - an Wut, Enttäuschung und auch Trauer. Die muss man nach all den entbehrungsreichen Monaten irgendwie verarbeiten und loswerden. Wenn ich aber meinen Mitmenschen mein Leid klage, belaste ich sie damit zusätzlich; oder die Klage wird zur Anklage und zum Verklagen.

Es gibt eine alte biblische Tradition, etwa in den Psalmen oder bei Hiob, meine Klage Gott hinzuhalten. Indem ich sie ausspreche, werde ich sie los und lege sie in seine Hände.

KNA: "Jammer nicht" - jammern und klagen kommen beim Gegenüber oft nicht gut an. Was ist der Unterschied Klage und Jammern? Hat Jammern einen anderen Adressaten?

Giele: Nein, es hat eine andere Ursache. Das Jammern ist eine innere Haltung, bei der alle Verantwortung beim Anderen liegt; die anderen haben Schuld. Sie müssen sich kümmern, damit es mir besser geht.

Klage sagt dagegen: Das sind meine Gefühle, ich möchte verantwortlich damit umgehen. Es handelt sich also um ein anderes Bewusstsein - auch wenn von außen Bedrängnisse auf mich zukommen und ich nicht weiß, wie lange es dauern wird, muss ich mein Leben annehmen und gestalten.

KNA: Klagen und negative Gefühle sind im Alltag nicht gerne gesehen, weil man sich zusammenreißen soll. Ist das Projekt ein bisschen anachronistisch?

Giele: Keineswegs. Denn wir jammern und klagen doch ohne Ende: Die Nachrichten sind voll davon, was schief läuft. Und Schimpfen ist auch eine Form, Frust loszulassen. Wir greifen nur auf, was ohnehin in der Luft liegt.

KNA: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee für dieses ökumenische Projekt?

Giele: Das Institut für praktische Theologie der Evangelischen Fakultät der Universität Leipzig hat beobachtet, dass die Kirchen im November und Dezember sehr aktiv gewesen sind, etwa mit einem Adventskalender mit Videobeiträgen und einer Heiligabendaktion. Die Kirchen waren sehr präsent - mit den zum Advent passenden, trostreichen Botschaften: Gott ist da, richtet euch auf, Gott als Licht in der Dunkelheit.

Das war alles gut und richtig. Aber Ende Januar stellten wir uns die Frage: Warum sind wir so schnell mit dem Trost, müssen wir nicht erst einmal der Klage Raum geben? Wir wissen nicht, wie lange die Pandemie noch dauert und wie schwer es noch für den Einzelnen persönlich wird. Mit Blick auf die anhaltenden Belastungen wurde uns bewusst: Wir sollten nicht so schnell trösten. Auch die Klage ist berechtigt und braucht Raum.

KNA: Wie sieht das Format der "Klagezeit" konkret aus?

Giele: Unter klagezeit-leipzig.de kann sich jeder selbst einen Eindruck machen; da steht immer die jeweilige Andacht vom Freitag eine Woche zum Anschauen und Mitfeiern. Im Zentrum steht die persönliche Erfahrung. Aus dem ganzen Spektrum an Menschen und Berufen, die Corona belastet, suchen wir immer zwei Menschen, die ihre ganz eigene Betroffenheit, Bedrücktheit und Klage formulieren.

In Drei-Minuten-Statements sprechen sie aus, was sie bedrückt und stecken einen Zettel in eine steinerne "Klagewand". Im Anschluss können die anderen Anwesenden, begleitet von leiser Musik ihre eigenen oder stellvertretende Klagen für andere schreiben und diese in die Wand stecken. Auch via Chat sind Menschen dazu eingeladen.

Klage formulieren, loswerden im Aussprechen, Wegbringen - das sind die wesentlichen Elemente. Es gibt immer ein biblisches Wort dazu, meist ein Psalm. Wir verzichten auf Verkündigung, damit man nicht gleich wieder einen frommen Mantel drüber hängt und tröstet.

KNA: Wie ist die Resonanz?

Giele: Die Präsenzsandachten am Freitagnachmittag sind mit rund 40,

50 Leuten für Corona-Bedingungen ziemlich gut besucht. Und beim Livestream kommen noch einmal 100 bis 150 Leute dazu. Wir bekommen gute Rückmeldungen, wie wohltuend und an der Zeit es sei, dafür mal Raum zu geben.

Die Klagewände in beiden Kirchen sind die ganze Woche über zugänglich, und die Zahl der Zettel nimmt binnen einer Woche deutlich zu. Was die Menschen aufschreiben und in die Mauersteine stecken, ist sehr persönlich - das ist etwas zwischen Gott und ihnen. Online hat sich deshalb bislang kaum jemand getraut, seine Klage zu veröffentlichen.

KNA: Wenden sich Menschen mit ihrer Klage überhaupt noch an Gott?

Giele: Ich glaube, das nimmt sogar zu. Das sehe ich auch an unserer Gebetsecke, wo Menschen Kerzen anzünden können. Das Angebot wird enorm gut angenommen. Auch in der geistlichen Begleitung spielt die Verbindung zu Gott eine immer größere Rolle.

KNA: Haben sich auch bei der geistlichen Begleitung durch Corona neue Themen ergeben?

Giele: Corona macht das Thema Einsamkeit, das sonst gerne überspielt wird, besonders deutlich. In der Pandemie sind viele Menschen damit sehr hart und deutlich konfrontiert. Dabei ist Einsamkeit nicht nur das Problem von alten Menschen, die alleine leben oder im Heim vereinsamt sind. Einsamkeit zieht sich durch alle Generationen, und man kann sogar in Familien und Beziehungen einsam sein. Das Thema dringt jetzt richtig durch: Ich kann nicht mehr ins Kino, kann nicht mit Freunden essen gehen oder mich sonst ablenken. Stattdessen sitzt man abends alleine zu Hause.

Wir laden wir auf unserer Homepage ausdrücklich dazu ein, in schwierigen Situationen ein vertrauliches Gespräch mit einem Seelsorger oder der Telefonseelsorge zu führen.

KNA: Die "Klagezeit" endet an Karfreitag, wird es einen besonderen Abschluss geben?

Giele: Es wird auf jeden Fall einen deutlich erkennbaren Endpunkt geben. Wir haben verschiedene Ideen, wollen aber flexibel entscheiden, was zu dem Zeitpunkt dann am besten passt. Wenn ein Ende des Lockdowns erkennbar sein sollte, können wir uns mit dem Blick auf Ostern eine Art Fest des Lebens, des Aufatmens und des Auflebens vorstellen. Lassen Sie sich überraschen.


Gregor Giele (Archivbild) / © Gregor Krumpholz (KNA)
Gregor Giele (Archivbild) / © Gregor Krumpholz ( KNA )
Quelle:
KNA