Expertin: Kinder selbst einschätzen lassen, was sie können

Kinder mutig machen

Inwiefern ist Mut für Kinder wichtig? Wie werden sie zu mutigen jungen Menschen? Das weiß Diplom-Psychologin Maryam Boos. Sie bietet Präventionstrainings, quasi "Kinder-Mut-Mach-Kurse", an.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Unter Kindern ist man mutig, wenn man auf einen hohen Baum klettert und möglichst von dort oben runterspringt, sich an einem Regenrohr bis zur Rinne hochzieht oder einem Lehrer einen Streich spielt. Aber darum geht es in ihrem Training vermutlich nicht oder?

Maryam Boos (Diplom-Psychologin): In dem Training selber nicht. Allerdings sprechen Sie da ein sehr gutes Beispiel an. Vor einem Baum zu stehen und zu entscheiden: "Klettere ich da hoch oder nicht?" Das ist die erste Form von Mut. Mut und Angst schließen sich ja nicht aus, ganz im Gegenteil. Bevor ich eine mutige Tat vollbringen, habe ich Angst. Wenn das Kind vor dem Baum steht, wird es selber entscheiden müssen, ob es sich dort hoch traut und wo seine Komfortzone ist. Es weiß, dass es möglicherweise herunterfallen oder sich wehtun kann. Vielleicht hatte das Kind zum ersten Mal zittrige Knie oder feuchte Hände. Jedes Kind kann selbst am besten einschätzen, ob es eine Aufgabe schaffen kann oder nicht. Und mutig ist nicht derjenige, der dort hochklettert, obwohl er genau weiß, er möchte das eigentlich nicht. Sondern mutig ist derjenige, der aus innerer Überzeugung heraus, seine persönliche Komfortzone verlässt und etwas Neues ausprobiert.

DOMRADIO.DE: Viele Kinder trauen sich häufig manche Dinge nicht, weil sie nicht ausgelacht werden wollen. Beispielsweise wenn es darum geht, sich in der Schule zu melden. Genau dieses Problem packen Sie an, oder?

Boos: Ganz genau. Wir wissen aus der Forschung, dass Ausgrenzung und Auslachen die gleichen Mechanismen im Gehirn in Gang setzen, die körperlichen Schmerz auslösen. Es ist ganz wichtig, bereits im Kindergarten deutlich zu machen, dass jeder Mensch gute Eigenschaften. Dies verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. In meinen Trainings mit den Kindern versuche ich, den Kindern schon sehr früh deutlich zu machen, dass jeder Mensch gute Eigenschaften hat. In diesem Zusammenhang spielt das Selbstwertgefühl eine ganz wichtige Rolle.

DOMRADIO.DE: Wie kann man das üben?

Boos: Wir versuchen mit den Kindern erst mal herauszufinden, was sie gut und was sie wiederrum nicht so gut können. Die Kinder versuchen beispielsweise zu erfahren, wo die Unterschiede zu ihren Sitznachbarn liegen und ob es ist schlimm ist, wenn man sich unterscheidet. Wenn das herausgefunden wurde, kann ich selber auch weitergehen und die persönlichen Grenzen kennenlernen und testen; also was mag ich gerne, was mag ich nicht so gerne, was tue ich, wenn mir etwas widerfährt, das mir keine Freude bereitet. Wichtig dabei ist, dass ich meine eigenen Grenzen auch durchsetze. Und das ganz gewaltfrei.

DOMRADIO.DE: Sie haben gerade die persönlichen Grenzen angesprochen. Wenn es darum geht Kinder nicht zu Opfern werden zu lassen, dann müssen diese ihre Grenzen benennen können. Wenn einem Mädchen jemand zu nahe kommt, körperlich oder verbal, muss das Mädchen im Grunde das Stoppschild hochhalten können. Wie lernen Sie das?

Boos: Sie lernen dies durch drei verschiedene Handlungsalternativen. Zunächst einmal setzen sich die Kinder tatsächlich über die Sinnesorgane damit auseinander. Was tut mir gut und was nicht, was schmecke ich gerne, was schmecke ich nicht gerne, was sehe ich mir gerne an, was nicht und was fühle ich gerne und was nicht? Wir stärken die Kinder darin, dass sie laut und deutlich zu ihrer Meinung stehen können, auch wenn die Tante gerade ein Küsschen geben will und das Mädchen das gerade nicht. Wir äußern unser Missfallen mit unserer Stimme und sagen laut und deutlich, dass wir etwas nicht möchten. Wir können uns aber auch aus der Situation entziehen, indem ich den Kindern sage, sie sollen sich umdrehen und weggehen. Wir Erwachsenen würden dazu "ignorieren" sagen. Die dritte Alternative ist eine ganz wichtige. Es geht darum, sich Hilfe von einem Erwachsenen zu holen.

DOMRADIO.DE: Darunter verstehen manche auch "Petzen". Wie können Sie den Kindern beibringen, dass das manchmal notwendig ist?

Boos: Das ist ein ganz wichtiges Thema für mich. Denn das Wort Petzen gibt es gar nicht in allen Sprachen. Ich selber würde dieses Wort auch gerne aus der deutschen Sprache verbannen, denn dieses Wort stellt auch ein Druckmittel dar. Ein Kind, welches von der kompletten Klasse getreten wird und der Täter entgegenbringt, es solle doch zum Lehrer gehen und petzen, wird alles tun, nur nichts dem Lehrer sagen. Was ist denn überhaupt Petzen und wo liegt der Unterschied zwischen Petzen und Hilfe holen?

Ich versuche den Kindern mit einem ganz einfachen Trick zu erklären: Wenn Du etwas sagst und der Erwachsene kann Dir helfen, dann hast Du nicht gepetzt. Anregung für einen Erwachsene ist, dass wenn ein Kind zu mir kommt und sagt "Der Benjamin hat...", diese Situation zunächst gar nicht zu bewerten, sondern zu fragen, ob dem Kind geholfen werden kann. Wenn das Kind dies bejaht, weil es getreten wurde und ich ihm nun ein Kühlpack auf sein Knie legen soll, dann ist es kein Petzen. Wenn aber das Ziel ist, dass ich mit Benjamin nur schimpfen soll, dann müssen wir uns überlegen, ob das tatsächlich eine Art der Hilfe ist. Denn das ist es nicht und in diesem Fall sprechen wir dann eventuell von Petzen.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR