Bischof Neymeyr fordert Distanzierung von Antisemitismus

"Wir wollen diese religiöse Pluralität"

Kritik an der Politik Israels darf geübt werden, sagt Bischof Ulrich Neymeyr. Das dürfe aber nicht geschehen, indem man Synagogen bedrohe und Flaggen verbrenne. Neymeyr betont zudem das besondere Verhältnis zwischen Juden und Christen.

Bischof Ulrich Neymeyr / © Dominik Wolf (KNA)
Bischof Ulrich Neymeyr / © Dominik Wolf ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Bilder brennender israelischer Flaggen, aufgewühlter Mobs und hasserfüllter antijüdischer Parolen auf Plakaten sehen?

Bischof Ulrich Neymeyr (Bischof von Erfurt und Leiter der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofsonferenz): Dass da wenig differenziert wird. Ich denke, man kann gegen die Politik eines Staates demonstrieren und seine Meinung äußern. Es ist in Deutschland verboten, Flaggen dieses Staates zu verbrennen - aus gutem Grund. Aber man kann auf andere Weise seinen Unmut äußern über die Politik eines Landes. Üblicherweise geschieht dies vor der Botschaft oder einem Konsulat dieses Landes.

Aber es darf nicht vor Synagogen geschehen. Denn das erweckt ja den Eindruck, als seien die Synagogen in Deutschland Einrichtungen des Staates Israel. Das übersieht völlig, dass die große Mehrheit der Juden, die in Deutschland leben, deutsche Staatsbürger sind. Sie leben in einem anderen Staat, sind Bürger eines anderen Staates und man kann ihre Einrichtungen für Religion nicht haftbar machen für die Politik des Staates Israel.

DOMRADIO.DE: Da werden Jüdinnen und Juden in Deutschland, da wird die jüdische Gemeinde hier also sozusagen in Geiselhaft genommen für die sicher streitbare Politik Israels. Warum vermischt sich das in Ihren Augen auf so ungute Weise?

Neymeyr: Das ist etwas, was Juden immer wieder erleben. Ich habe schon oft erlebt, zum Beispiel bei Podiumsdiskussionen, dass ein Rabbiner sich gegen Redebeiträge verwahren musste, was denn die Politik in Israel solle, und er dann antwortete: "Ich bin kein Israeli, ich bin schon immer Deutscher."

Natürlich hat das einen Hintergrund. Israel ist ein jüdischer Staat und für die Jüdinnen und Juden, die hier leben, ist Israel natürlich ein wichtiger Staat, sogar ein existenziell wichtiger Staat, denn er ist eine Lebensversicherung für die Juden. Der Landesvorsitzende der Jüdischen Gemeinde hier in Thüringen, Professor Schramm, hat schon verschiedentlich gesagt: "Wenn der Staat Israel zehn Jahre früher gegründet worden wäre, hätte ich meine Großeltern kennengelernt, die hätten dort hingehen können."

Von daher ist Israel immer auch ein Zufluchtsort für Juden, die leider Gottes immer wieder befürchten müssen, Opfer von Pogromen zu werden, auch heute noch, wie wir jetzt wieder sehen. Deshalb haben Juden hier eine natürlich, eine besondere Beziehung zu Israel, viele haben auch Verwandte dort, aber sie leben in einem anderen Staat.

Deshalb dürfen Demonstrationen nicht vor Synagogen stattfinden; denn dann sind sie tatsächlich nicht Demonstrationen gegen die Politik eines Staates, sondern werden zu Demonstrationen gegen die jüdische Religion und gegen die Juden.

Da müssen alle, die in Deutschland leben, auch Migranten mit muslimischem Hintergrund, akzeptieren, dass wir in Deutschland eine besondere Beziehung zum Staat Israel haben. Dass für uns das Existenzrecht des Staates Israel außer Frage steht, weil wir eben eine solche Schuldgeschichte mit den Juden haben und deshalb auch dafür stehen, dass es einen Staat gibt, in dem Juden sicher leben können, muss akzeptiert werden.

DOMRADIO.DE: Politiker und Verantwortliche distanzieren sich von diesem offen zur Schau gestellten Antisemitismus. Muss Kirche noch mehr tun, als sich zu distanzieren?

Neymeyr: Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hat sich ja sofort zu Wort gemeldet. Wir sind seitens der Deutschen Bischofskonferenz in guten Gesprächen mit den deutschen Rabbinerkonferenzen. Wir sehen natürlich, dass der Antisemitismus, den es leider Gottes immer noch gibt, auch christliche Wurzeln hat. Das kann man gar nicht übersehen, dem müssen wir uns stellen, wir müssen uns unserer Geschichte stellen.

Alle Katholiken müssen aber auch wissen, und deshalb nutze ich jede Gelegenheit wie dieses Interview um zu sagen: Für uns als katholische Kirche sind die Juden nach wie vor ein Bundesvolk Gottes. Gott hat den Bund mit dem Volk Israel niemals aufgekündigt.

Papst Johannes Paul II., der zum ersten Mal die Synagoge in Rom besucht hat, hat von den Juden und Jüdinnen immer als "ältere Brüder und Schwestern" gesprochen. So müssen wir sie sehen und so begegnen wir ihnen auch. Wir dürfen nicht davon ausgehen, weil wir an Jesus als den Messias glauben, dass das Volk Israel damit seine Chance verspielt hat und keine Rolle mehr spielt. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist Lehre der katholischen Kirche, dass Gott nach wie vor im Bund mit dem Volk Israel steht. Und in der Karfreitagsfürbitte beten wir dafür, dass es auf seinem Weg zu dem Ziel findet, zu dem Gott das Volk Israel berufen hat. 

DOMRADIO.DE:  Sie bemühen sich ja schon seit längerem um den christlich-jüdischen Dialog, zum Beispiel mit der Kampagne "#jüdisch – beziehungsweise – christlich: näher als du denkst." Worum geht es da genau?

Neymeyr: Da geht es darum, über jüdische und christliche Festtage zu informieren, die zum Teil ja auch denselben Ursprung haben, wo es also durchaus Parallelen gibt, aber natürlich auch Unterschiede. Es ist immer wichtig in der Begegnung mit Religionen zu wissen, welche Feste Menschen anderer Religionen wichtig sind und auch, was sie an diesem Fest feiern.

Da haben wir in Deutschland Nachholbedarf, dass wir nicht nur die christlichen Feste im Blick haben, sondern dass man auch zum Beispiel weiß: Heute ist Jom Kippur, heute ist ein großer Festtag für die Juden, die unter uns leben.

DOMRADIO.DE: Wie optimistisch sind Sie, dass eine solche Arbeit langfristig wirklich hilft, Antisemitismus einzudämmen, hoffentlich irgendwann ganz zu verbannen?

Neymeyr: Ich sehe zunächst die Gruppe der katholischen Christen, kann aber für die evangelischen Christen mitreden, weil wir ja auch zusammen mit der EKD Kontakte mit Rabbinerkonferenzen pflegen. Da stehen wir wirklich Seite an Seite, wenn wir sagen: Wir wollen die christlichen Gläubigen in unserem Land informieren über das Verhältnis zu den Juden, wie es sich jetzt darstellt aus Sicht der Kirchen. Das halte ich für ganz enorm wichtig. Im Blick auf die gesamte Gesellschaft braucht es natürlich gesamtgesellschaftliche Anstrengungen, um jede Form von Menschenverachtung zu bekämpfen.

Wir haben in Deutschland eine besondere Verpflichtung, den Antijudaismus zu bekämpfen. Das ist ganz klar, weil wir gesehen haben, welch grausame Folgen das haben kann. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte, aber es war, wenn man so will, das allerschlimmste Pogrom, das es je gegeben hat.

Deshalb haben wir diese besondere Verpflichtung, dagegen zu kämpfen und allen anderen Menschen, die keine Christen sind, müssen wir sagen, dass wir in Deutschland diese religiöse Pluralität wollen und dass für uns als erstes der Mensch zählt, der da ist und nicht, welche Hautfarbe er hat oder welche Religion oder welches Geschlecht oder ob er Migrant ist oder Flüchtling. Es zählt in erster Linie der Mensch.

Das Interview führte Dagmar Peters.