Amerikas Juden in der Corona-Pandemie

"Strenger als die staatlichen Vorgaben"

Abstand, Hygiene und Gesangsverbot machen den liturgischen Alltag kompliziert, auch für jüdische Gemeinden. Wie feiert man per Zoom Gottesdienst, wenn man am Shabbat keinen Computer einschalten darf?

Autor/in:
Birgitt Schippers
Ein orthodoxer Jude mit Mundschutz / © Ilia Yefimovich (dpa)
Ein orthodoxer Jude mit Mundschutz / © Ilia Yefimovich ( dpa )

"Wir waren bei den Kontaktbeschränkungen strenger als die staatlichen Vorgaben,"  berichtet Ruth Langer, Professorin für Jüdische Theologie am Boston College. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 wurden Präsenzgottesdienste in vielen jüdischen Gemeinden ausgesetzt, denn gemäß ihrer Glaubenstradition hat die Gesundheit höchste Priorität.  

Herausforderung für orthodoxe Gemeinden

Für die orthodoxen Juden ergab sich aus den Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie ein doppeltes Problem. Für die täglich vorgeschriebenen Gebetstreffen ist die persönliche Anwesenheit an einem Ort von traditionell zehn Männern ab 13 Jahren (Minyan) vorgeschrieben. Darüber hinaus dürfen an Schabbat und an den hohen Feiertagen wie Pessach weder Elektrizität noch Technik genutzt werden. Zoom-Gottesdienste sind also nicht erlaubt. "Manche haben entschieden, zu Hause privat zu beten," weiß Ruth Langer zu berichten, "andere haben leider entschieden, die Coronaregeln zu brechen, um miteinander beten zu können. Es gab auch Gläubige, die sich zum gemeinsamen Gebet auf den Balkonen ihrer Apartments versammelt haben. Vorausgesetzt, sie waren unmittelbare Nachbarn und konnten sich sehen und hören."

Für viele jüdische Gemeinden waren Gebetstreffen in Parks oder auf Parkplätzen eine Alternative. Nicht möglich waren die liturgisch wichtigen Lesungen aus den religiösen Schriften im Rahmen eines gemeinsamen Gottesdienstes. Also haben die Gläubigen die heiligen Schriften zu Hause gelesen und studiert. Für Ruth Langer war dies eine gute Erfahrung: "Ich gehöre keiner orthodoxen Synagoge an. Und für mich war das eine sinnvolle Alternative. Denn statt von einer Flut an Worten überrollt zu werden, konnte ich mich hinsetzen und in Ruhe die Texte und Kommentare studieren, innehalten und darüber nachdenken. Das war für mich persönlich ein Gewinn."

Private religiöse Feiern

Eine besondere liturgische Herausforderung waren religiöse Zeremonien im privaten Bereich. Das Ritual der Beschneidung, Hochzeitsfeiern, Beerdigungen oder die Trauerwoche danach (Schiv’a) konnten nur im kleinsten Kreis begangen werden. Durch Zoom-Übertragungen dieser wichtigen Feiern konnten zumindest virtuell Familienmitglieder und Gemeindeangehörige beteiligt werden. Orthodoxe Gemeinden umgingen zum Beispiel ihre strengen Vorschriften, indem sie nichtjüdische Menschen engagierten, für sie die Computer ein- und auszuschalten.

Die innovative Seite von Zoom-Begegnungen

Für die Liberalen und Reformjuden waren Gottesdienste, Gebetstreffen und Begegnungen via Zoom ein erfolgreicher Weg, nicht nur ihre Gemeindemitglieder zu binden. Ihre virtuellen Angebote verfolgten mehr Menschen, als je zuvor in Präsenzveranstaltungen anwesend waren. Sie wurden nationale und internationale Ereignisse, an denen Juden aus der ganzen Welt teilnahmen. Sehr positiv sieht Ruth Langer auch die gewachsene Bedeutung religionspädagogischer Angebote für Juden via Zoom: "Die Reichweite hat sich durch Zoom verändert. Sie können national, über die Zeitzonen hinweg, aber auch international wahrgenommen werden. Wir experimentieren mit diesen sehr spannenden Möglichkeiten. Meine Tochter zum Beispiel hat ein virtuelles Programm für 80 jüdische Frauen durchgeführt, an dem Frauen aus der ganzen Welt teilgenommen haben."

Und wie sieht die Zukunft aus?

Eine mittlerweile sehr gefragte Webseite in den USA gibt Empfehlungen für die innovativsten, besten oder interessantesten jüdischen Gottesdienste, die virtuell abrufbar sind. Ruth Langer sieht an diesem Angebot große Vorteile: "Warum soll ich mir nicht einen Gottesdienst aussuchen mit guter Musik, wenn ich dafür in Stimmung bin? Es gibt Gottesdienste mit professionell vorgetragener Musik, andere sind eher spirituell geprägt. Hunderte von Menschen folgen diesen Gottesdiensten."

Doch mit Blick auf die Zeit nach Corona wird vor allem unter den internetaffinen Reformjuden diskutiert, ob und wie die jüdischen Gemeinden von der digitalen Ebene wieder zurück in das analoge Gemeindeleben mit persönlichen Begegnungen zurückfinden können. Das Bedürfnis danach ist da, sagt Ruth Langer: "Für einige Menschen ist die Gemeinschaft bei der liturgischen Feier sehr wichtig. Wahrscheinlich ist ihnen aber noch wichtiger das Zusammensein nach dem Gottesdienst. Nach Zoom-Sitzungen drücken wir einfach den Knopf und alles ist weg."

Das hohe Tempo an Impfungen in den USA rückt die Wiedereinführung von Präsenzgottesdiensten und persönlichen Treffen in greifbare Nähe. Doch die jüdischen Gemeinden stehen vor einer Gewissensfrage, so Ruth Langer: "Hier bei uns in Massachusetts sind 15 Prozent der Menschen vollständig geimpft und könnten sich wieder mit anderen treffen. Auch die bereits geimpften Mitglieder unserer Gemeinde sehnen sich sehr, wieder zurück in die Synagoge zu kommen, aber sie fragen sich, ob das richtig ist, wenn noch viele andere noch nicht dabei sein dürfen." Eine moralische Frage, die sich alle Religionsgemeinschaften auch in Deutschland stellen sollten.

Mehr zum jüdischen Leben in der Corona-Pandemie schreibt Prof. Ruth Langer in ihrem Beitrag zum Buch "Gottesdienst auf eigene Gefahr".

 

Orthodoxe Rabbiner möchten die Teilnahme per Video an Pessach ermöglichen / © Alex Ragen (shutterstock)
Orthodoxe Rabbiner möchten die Teilnahme per Video an Pessach ermöglichen / © Alex Ragen ( shutterstock )

 

Juden in der Pandemie / © Alex Eidelman (shutterstock)
Quelle:
DR