Weltweiter Holocaust-Gedenktag

Entwürdigende Sprache und Hassrede bereiteten "den Boden für Taten"

Vor 75 Jahren haben die Soldaten der Roten Armee die Menschen in Auschwitz befreit. Unter den unbeschreiblichen Gräueltaten der Deutschen leiden die Überlebenden bis heute. Wehret den Anfängen, mahnt Bundespräsident Steinmeier.

Ein Überlebender nimmt an der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz teil / © Czarek Sokolowski (dpa)
Ein Überlebender nimmt an der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz teil / © Czarek Sokolowski ( dpa )

Das Morden der Nationalsozialisten in Auschwitz verpflichtet die Deutschen nach Auffassung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, sich gegen alle Formen von neuem Antisemitismus zu stemmen. Bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager im von Deutschen besetzten Polen sagte Steinmeier am heutigen Montag, man dürfe nicht nur über die Vergangenheit reden, sondern müsse es als bleibende Verantwortung begreifen, den Anfängen zu wehren, auch in unserem Lande. Dies sei auch die Bitte der Überlebenden. "Die Zeiten sind andere heute, die Worte sind andere, die Taten sind andere, aber manchmal, wenn wir in diese Zeit schauen, haben wir den Eindruck, dass das Böse noch vorhanden ist."

Last der Geschichte zu spüren

Steinmeier nahm an der internationalen Gedenkveranstaltung am 75. Jahrestag der Befreiung des Lagers durch Einheiten der Roten Armee teil. Zuvor ging er mit seiner Frau Elke Büdenbender durch das Lager. Auschwitz sei "ein Ort, an dem wir Deutsche die Last der Geschichte spüren", sagte Steinmeier. Man müsse sich erinnern, "um im Hier und Jetzt vorbereitet zu sein", betonte er. "Auschwitz, das ist die Summe von völkischem Denken, Rassenhass und nationaler Raserei".

Viele starben kurz nach Befreiung

Einheiten der sowjetischen Roten Armee hatten das frühere deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vor genau 75 Jahren erreicht und mehr als 7000 noch lebende Häftlinge befreit. Viele von ihnen starben jedoch innerhalb kurzer Zeit an den Folgen von Hunger, Krankheiten und Erschöpfung. Der Name Auschwitz hat sich als Synonym für den Holocaust und Inbegriff des Bösen weltweit ins Bewusstsein eingebrannt. Allein dort brachten die Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen um, zumeist Juden. In ganz Europa ermordeten sie während der Schoah etwa sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens.

Auschwitz ist Ort des Grauens und deutscher Schuld

Gegen einen "Schlussstrich" bei der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen hat sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gewandt. Einen entsprechenden Eintrag schrieb er am Montag gemeinsam mit seiner Frau Elke Büdenbender ins Gedenkbuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. "Auschwitz ist ein Ort des Grauens und ein Ort deutscher Schuld. Es waren Deutsche, die andere Menschen herabgewürdigt, gefoltert und gemordet haben. Wir wissen, was geschehen ist, und müssen wissen, dass es wieder geschehen kann", schrieb Steinmeier.

Wehret den Anfängen

Steinmeier verneige sich in Trauer vor den Opfern und den Überlebenden. "Wir wollen und werden ihr Leid nicht vergessen“, heißt es weiter in dem Eintrag. "Diese Erinnerung ist aber auch Mahnung. Wer den Weg in die Barbarei von Auschwitz kennt, der muss den Anfängen wehren! Das ist Teil der Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt." Ähnlich hatte sich Steinmeier auch bei seiner Rede in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem am vergangenen Mittwoch geäußert.

Für Steinmeier ist es der erste Besuch in Auschwitz. Er wird von drei Überlebenden auf seiner Reise begleitet. Vor der zentralen Gedenkveranstaltung besichtigte er die Gedenkstätte und legte einen Kranz vor der sogenannten Todeswand ab, an der Häftlinge exekutiert wurden.

Monströser Albtraum

Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda hat den Holocaust als grausamstes Verbrechen in der Geschichte der Menschheit bezeichnet. "Vor 75 Jahren endete hier der monströseste Albtraum, der fünf Jahre zuvor begonnen hatte", sagte Duda bei der Gedenkveranstaltung. Zwar hätten sich die Nazis bemüht, vor Kriegsende alle Zeichen des Vernichtungslagers zu zerstören, das sei ihnen aber nicht gelungen. "Die Zeugen wurden gerettet, der Ort wurde erhalten und zum Symbol des Holocaust." Dieses Gedächtnis von Auschwitz müsse erhalten bleiben, so Duda.

Nicht gleichgültig werden

Papst Franziskus hat am Holocaust-Gedenktag zu einem Moment der Stille ermahnt. Das Gedenken helfe, "nicht gleichgültig zu werden", schreibt das Kirchenoberhaupt auf Twitter

 

 

Und weiter: "Wenn wir die Erinnerung verlieren, machen wir die Zukunft zunichte." Bereits bei seinem Mittagsgebet am Sonntag hatte der Papst Katholiken in aller Welt für den 27. Januar zu Innehalten und Gebet aufgerufen. Angesichts der "ungeheuren Tragödie" der Schoah sei "Gleichgültigkeit nicht statthaft und Erinnerung eine Pflicht". Jeder müsse im eigenen Herzen sagen: "Nie wieder!", so der Papst.

Gedenken an Auschwitz-Befreiung auch in Deutschland

Am 75. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau haben Vertreter aus Politik und Religion auch in Deutschland an die Opfer erinnert. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble unterstrich am heutigen Montag die Rolle der Erinnerung und wandte sich entschieden gegen einen "Schlussstrich". Ähnlich äußerten sich auch andere Redner. In Berlin wurde mit einer Gedenkfeier an die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma erinnert. Ebenfalls in der Hauptstadt gab es ein Gedenken an die vom NS-Regime getöteten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen.

Schäuble sagte laut Redemanuskript am Abend beim Neujahrsempfang des MDR in Leipzig: "Der heutige Gedenktag fällt in eine Zeit, in der in Teilen der Gesellschaft der Wunsch nach einem Schlussstrich offen ausgesprochen wird." Keine Nation könne sich ihre Geschichte aussuchen oder abstreifen. "Vergangenheit ist die Voraussetzung der Gegenwart - und der Umgang mit ihr, mit den hellen Tönen wie ihren Abgründen, ist die Grundlage der Zukunft jedes Landes. Deshalb entscheidet sich die Frage, wie wir miteinander leben wollen, auch an der Frage, woran wir uns gemeinsam erinnern."

"Ohne die Erinnerung können wir das Böse nicht überwinden"

Bei der Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und Roma sagte die Holocaust-Überlebende Rita Prigmore nach Angaben des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: "Ohne die Erinnerung können wir das Böse nicht überwinden und keine Lehren für die Zukunft daraus ziehen." Sie rief zum Engagement gegen Diskriminierung von Minderheiten auf. Im Dezember 1942 hatte SS-Chef Heinrich Himmler den "Auschwitz-Erlass" unterzeichnet, der die Deportation von Sinti und Roma aus ganz Europa in das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau anordnete.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, mahnte mit Blick auf die vom NS-Regime ermordeten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, dass seinerzeit entwürdigende Sprache und Hassrede "den Boden für Taten" bereitet hätten. Er äußerte sich gemeinsam mit dem Deutschen Behindertenrat an der Gedenktafel in der Berliner Tiergartenstraße 4.

Ermordung und Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung

Nach dieser Adresse benannte das NS-Regime das organisierte Morden als "Aktion T4". Dabei wurden mindestens 200.000 Menschen ermordet und schätzungsweise 400.000 zwangssterilisiert oder für medizinische Zwecke missbraucht. Geistige Wegbereiter seien Wissenschaftler und Ideologen gewesen, "die von 'Ballastexistenzen', von 'Gnadentod' und 'Rassenhygiene' sprachen.

"Antisemitismus ist Sünde"

Katholische Laien bezeichneten den Antisemitismus unterdessen als Sünde. Er richte sich gegen Gott und die Menschheit und müsse bekämpft werden, erklärte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Über die „richtige Form“ des Erinnerns an die NS-Verbrechen könne und dürfe gestritten werden. "Aber die Grundlage für die Debatten muss klar sein: Die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns und der Schoah haben ein Recht darauf, dass ihr Leid erinnert und ihr Andenken bewahrt wird. Wer das bestreitet, gibt sie dem Vergessen preis und tritt ihre Würde erneut mit Füßen."

Merkel: Wir werden die Opfer des Holocaust nie vergessen

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz die deutsche Verantwortung für den Holocaust betont. "Wir alle tragen Verantwortung. Und zu dieser Verantwortung gehört auch das Gedenken", zitierte sie am heutigen Montag über ihren Instagram-Account die Worte, die sie bei ihrem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember geäußert hatte: "Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben - und auch keine Relativierung."

Merkel fügte hinzu: "Ob am heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust oder an jedem anderen Tag: Wir werden sie nie vergessen." Das über Instagram verbreitete Foto zeigt die Kanzlerin bei ihrem Gang durch die Gedenkstätte. Die Kanzlerin wollte am Abend in der Berliner Staatsoper Unter den Linden gemeinsam mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki an einem Gedenkkonzert teilnehmen.

Guterres warnt vor Wiederaufleben der Nazi-Ideologie

UN-Generalsekretär António Guterres hat vor einem Wiederaufleben der Nazi-Ideologie und weißer Überlegenheitsvorstellungen gewarnt. Die Welt müsse Hass entschlossen bekämpfen, forderte Guterres laut einer in Genf verbreiteten Erklärung.

Die systematische Tötung von sechs Millionen Juden sei eines der abscheulichsten Verbrechen unserer Zeit gewesen, hielt der UN-Generalsekretär fest. Die Welt dürfe die Massenmorde der Nationalsozialisten und ihrer Komplizen nie vergessen. Das Ausmaß des Holocausts dürfe nicht kleingeredet und die Verantwortung der Täter nicht heruntergespielt werden.

Vereinte Nationen für Frieden und Menschlichkeit

Guterres erinnerte daran, dass die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden, um der Menschheit Frieden zu bringen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie den Holocaust zu verhindern. 

Am 27. Januar vor 75 Jahren befreiten sowjetische Soldaten das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen. Dort ermordeten die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg 1,1 Millionen Menschen; die meisten Opfer waren Juden.


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem / © Abir Sultan (dpa)
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem / © Abir Sultan ( dpa )
Quelle:
dpa , KNA , epd
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