Viele britische Juden wollen deutschen Pass

Folge des Brexits

In Brüssel und London scheinen konkrete Schritte zum Brexit zumindest näher gerückt. Als Nebeneffekt des britischen EU-Austritts besinnen sich nun viele Juden auf der Insel ihrer deutschen Wurzeln. Eine Bestandsaufnahme.

Autor/in:
Kristina Moorehead
Britischer und deutscher Reisepass / © Britta Pedersen (dpa)
Britischer und deutscher Reisepass / © Britta Pedersen ( dpa )

Wie leicht können Briten nach dem Brexit noch ihre Insel Richtung Europa verlassen, dorthin reisen oder dort arbeiten? Wird man Visa fürs europäische Festland brauchen? Lange Passkontrollen über sich ergehen lassen? Fragen, die wie so viele andere Fragen zum Thema Brexit immer noch offen sind.

Wohl dem, der neben einem britischen noch einen weiteren europäischen Pass besitzt. Besonders beliebt ist seit dem Referendum laut BBC-Recherchen der deutsche Pass, der 2017 am häufigsten an Briten vergeben wurde: 7.493 Mal. Ein Rekord. 2015 erhielten nur 564 Briten einen deutschen Pass.

Recht auf Wiedereinbürgerung

Für viele Juden in Großbritannien ist der Schritt zur doppelten Staatsbürgerschaft relativ leicht: Wer einen Vorfahren hat, dem als Verfolgter des Nationalsozialismus "zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen" wurde, der hat laut Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes ein Recht auf Wiedereinbürgerung. Das gilt auch für die Nachfahren der Verfolgten.

2015 beriefen sich im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachung 43 Briten auf diesen Passus. 2016 stieg die Zahl der Wiedereinbürgerungen aus Großbritannien schon auf 684. Fast all diese Anträge gingen nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni ein. 2017 schnellte die Zahl weiter in die Höhe: 1.667 Briten erhielten dank der Wiedergutmachung ihren deutschen Pass zurück; der Großteil von ihnen Juden.

"Merklich gestiegen" sei das Interesse von Briten, ihre Familiengeschichte zu recherchieren, "um die Möglichkeit einer deutschen Staatsbürgerschaft zu erkunden", bestätigt Christine Schmidt, Vizedirektorin und Leiterin für Forschung der "Wiener Library" in London. Die Einrichtung zur Holocaustforschung besitzt die digitale Kopie des Vereinigten Königreiches für das Archiv des Internationalen Suchdienstes. Anfragen kämen von "Kindern, Enkeln und in einem Ausnahmefall von einem Überlebenden selbst", so Schmidt. Vor diesem Hintergrund findet im Februar auch ein Workshop "Deutsche Staatsbürgerschaft für britische Juden" statt.

Anlaufpunkt für Juden

Dort will auch Michael Newman Auskunft geben, Leiter der Association of Jewish Refugees (AJR). Seine Organisation ist ebenfalls zu einem Anlaufpunkt für Juden geworden, die sich über ihr Recht auf Wiedereinbürgerung in Deutschland informieren wollen. Newman kennt "viele Juden, die gerade auf ihren deutschen Pass warten oder ihn kürzlich erhalten haben". Die meisten wollten mit der doppelten Staatsbürgerschaft schlicht sichergehen, dass sie "weiter die Freiheiten für Arbeit und Reisen genießen können, die sie schon ihr ganzes Leben kennen".

Also einfach schnell ein Dokument ausfüllen, die Sterbeurkunde oder gegebenenfalls die alten Pässe der Eltern oder Großeltern einreichen?

So leicht ist es dann doch nicht, meint Newman: "Viele Juden stellen den Antrag nur schweren Herzens." Denn der ganz pragmatische Wunsch nach Bewegungsfreiheit in der EU stößt in der jüdischen Bevölkerung Großbritanniens auf die emotionalen Schatten der deutschen Vergangenheit. "Was würden meine Eltern oder Großeltern wohl sagen?" Eine Frage, die sich jüdische Antragssteller der zweiten und dritten Generation auch laut Christine Schmidt immer wieder stellen.

Weigerung, deutschen Boden zu betreten

Jemand, der sich nach langem Nachdenken gegen einen deutschen Pass entschieden hat, ist Robert Voss. Sein Vater musste die Eltern in Deutschland für immer zurücklassen; über seine deutsche Vergangenheit sprach er nicht. "Er hat versucht, seine Wurzeln zu vergessen und die ersten 19 Jahre seines Lebens aus dem Gedächtnis zu löschen", sagt Voss. 91 seiner Verwandten starben in Konzentrationslagern, hat er recherchiert. Für Voss, der heute als Lord Lieutenant von Hertfordshire höchster ehrenamtlicher Repräsentant seiner Majestät in der Grafschaft ist, wäre ein deutscher Pass "eine Missachtung des Gedenkens an meinen Vater".

Seine jüdische Frau gehe noch viel weiter und weigere sich bis heute, deutschen Boden zu betreten, berichtet er. Dass zwei Neffen einen Passantrag gestellt haben und seine Tochter dies in Erwägung zieht, verübelt er aber nicht. "Es ist ihre Entscheidung." Diese Generation habe den Großvater nicht kennengelernt und daher andere Gefühle. Auch sei sie weniger mit der "inhärenten Abneigung und dem starken Misstrauen gegenüber allem Deutschen groß geworden", erklärt Voss.

Die jüngere Generation könne sich leichter von der Last der Geschichte befreien, ist auch Michael Newman überzeugt: "Viele der Antragssteller sehen in Deutschland ein Land, das eine Menge unternommen hat, um die Verbrechen der Vergangenheit zu thematisieren - und sich nicht scheut, offen darüber zu diskutieren." 80 Jahre, nachdem die Novemberpogrome Auslöser für die Flucht vieler deutscher und österreichischer Juden aus ihrer Heimat waren, sorgt der Brexit nun für einen überraschenden Nebeneffekt: Er verbindet viele britische Juden wieder mit ihren deutschen Wurzeln.


Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak (KNA)
Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak ( KNA )
Quelle:
KNA