Juden und Geflüchtete besuchen gemeinsam Auschwitz

"Das Leben und der Alltag trennen sie nicht"

Antisemitismus gibt es unter vielen Bevölkerungsgruppen, auch unter Migranten aus muslimischen Ländern. Ein Projekt soll dem entgegen wirken. Daher fahren junge Juden und Geflüchtete gemeinsam nach Auschwitz.

Ehemaliges KZ Auschwitz-Birkenau  / © Daniel Naupold (dpa)
Ehemaliges KZ Auschwitz-Birkenau / © Daniel Naupold ( dpa )

DOMRADIO.DE: Haben Sie die Idee zur gemeinsamen Fahrt tatsächlich aus der jüngsten Integrationsdebatte geschöpft?

Irith Michelsohn (Generalsekretärin der Union progressiver Juden in Deutschland): Die Idee ist schon daraus entstanden, kam aber nicht von mir, sondern vom Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Er hat damit auf die Aussagen reagiert, die unter anderem der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Schuster, im April geäußert hat. Er meinte, dass Integration besser gelingen könne, wenn man jungen Geflüchteten ermöglicht Konzentrationslager und jüdische Museen zu besuchen.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie die Teilnehmer ausgewählt, die Flüchtlinge und die jungen Juden?

Michelsohn: Die jungen Geflüchteten kommen alle aus dem Bundesland Thüringen, weil es dort eine sehr gut organisierte Stelle gibt. Wir sind Paten in Erfurt. Und diese jungen Geflüchteten waren teilweise schon einmal in der Gedenkstätte Buchenwald und sind offen für den Dialog und für das Kennenlernen der deutschen Geschichte. Die jungen Juden kommen aus unseren Mitgliedsgemeinden der Union progressiver Juden in Deutschland.

DOMRADIO.DE: Was genau erhoffen Sie sich jetzt von dieser gemeinsamen Fahrt nach Auschwitz?

Michelsohn: Zum einen erhoffen wir uns, dass die jungen Erwachsenen muslimischen und jüdischen Glaubens merken, dass sie gemeinsam in Deutschland leben und dass sie vielleicht die Religion trennt, aber das Leben und Alltag sie nicht trennen – vielleicht noch, weil die einen Geflüchtete sind und noch nicht Fuß gefasst haben in Deutschland. Und daraus erhoffe ich mir auch, dass die Geflüchteten bezüglich des Antisemitismus, den die sie teilweise im Kopf haben, weil sie in ihren Heimatländern nie etwas anderes gelernt haben und auch keine Chance hatten, etwas anderes zu lernen, hier spüren, dass wir zwar eine andere Religion haben, aber dass wir gleiche Menschen sind. Das ist mir einfach ganz, ganz wichtig.

DOMRADIO.DE: Die Teilnehmer werden auch auf einen 92-jährigen Holocaustüberlebenden treffen. Was, wünschen Sie sich, soll speziell diese Begegnung mit einem Opfer bringen?

Michelsohn: Die Zeit rennt uns davon. Es gibt immer weniger Zeitzeugen und wir sollten einfach die Chance ergreifen, mit einem 92-jährigen Zeitzeugen zu sprechen, der die Grauen des Nationalsozialismus erlebt und, Gott sei Dank, auch überlebt hat. Und das ist um ein Vielfaches authentischer, als wenn man es sich durch Bücher anliest oder in Filmen ansieht.

DOMRADIO.DE: Was steht sonst noch auf dem Reiseprogramm der Gruppe?

Michelsohn: Wir werden morgen früh erst mal nach Krakau fahren, um das südliche Krakau zu sehen und um das Islamische Zentrum in Krakau zu besuchen, um zu sehen, wie schwierig es war das aufzubauen. Am Nachmittag gehen wir in die ehemalige Fabrik von Oskar Schindler. Am nächsten Tag werden wir nach Birkenau fahren und uns damit auseinandersetzen. Danach sehen wir uns in der Stadt Oświęcim die Synagoge und den jüdischen Friedhof an.

Der Donnerstag ist dann der Tag, wo wir in das Stammlager Auschwitz I gehen. Dort werden wir zuerst eine interreligiöse Gedenkfeier abhalten. Dabei sind ein Imam sowie ein Rabbiner, aber auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer Thüringen und Schleswig-Holstein und die Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein. Diese Tage werden wir immer abends vor- und nachbereiten und wenn wir am Donnerstagabend alles erlebt und überlebt haben, werden wir das noch reflektieren, bevor wir am Freitagmorgen wieder nach Hause fliegen.

DOMRADIO.DE: Das klingt nach sehr intensiven Tagen. Ich frage Sie jetzt schon vorab: Würden Sie sagen, ja, solche KZ-Besuche sollten in Zukunft für alle Neuankömmlinge in Deutschland Pflicht sein?

Michelsohn: Ich glaube schon. Und es muss nicht immer Auschwitz sein. Wir haben leider auch viele Lager auf deutschem Boden. Damit könnte man die Reisen auch kürzer gestalten. Ich glaube nur, wenn man sich vor Ort mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzt, kann man auch die Dimension begreifen. Es ist etwas ganz anderes, wenn man vor Ort ist.

DOMRADIO.DE: Hoffen Sie, dass die jungen Leute auch über die Fahrt hinaus in Kontakt bleiben?

Michelsohn: Das hoffe ich schon. Denn wir hatten im Juni schon ein Vorbereitungstreffen. Das war uns ganz wichtig, dass man sich nicht auf dieser Reise kennenlernt, sondern schon vorher. Wir waren zwei Tage unter anderem in Erfurt. Wir haben das Museum "Topf und Söhne" besucht – das waren die Ofenbauer der Krematorien von Auschwitz. Und da war es einfach wunderbar, von der ersten Minute an saßen die muslimischen und die jüdischen jungen Erwachsenen zusammen und redeten und tauschten sich aus.

Und ich hoffe einfach, dass es bei dieser Reise so weitergeht. Ob da Freundschaften entstehen, kann man jetzt noch nicht sagen. Aber wenn der Kontakt da ist und jeder etwas mit nach Hause nimmt und Multiplikator in seinem eigenen Umfeld und in seiner eigenen Gesellschaft ist, dann ist doch schon wieder ein Stück gewonnen, dass wir vielleicht friedlich in Deutschland zusammenleben können.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Irith Michelsohn / © privat (KNA)
Irith Michelsohn / © privat ( KNA )
Quelle:
DR