Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland im Interview

"Ich lebe ganz bewusst und sehr gerne hier"

Dieter Graumann ist seit 2010 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im domradio.de-Interview spricht er über sein Leben als Jude in Deutschland und die Rolle der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum von heute.

 (DR)

domradio.de: Herr Graumann, wann haben Sie das erste Mal gespürt, dass es etwas besonderes ist, im Nachkriegsdeutschland als Jude hier zu leben?

Dieter Graumann: Mein Schlüsselerlebnis war, dass mein Name geändert wurde, als ich sechs Jahre alt war. Ich bin in Israel geboren und hieß David und bin mit anderthalb Jahren nach Deutschland gekommen. Und als ich eingeschult werden sollte, da stellten meine Eltern mich vor den Spiegel, nahmen mich in die Mitte und sagten laut und feierlich zu mir: David, ab heute heißt Du Dieter. Und daran kann ich mich gut erinnern, meine Eltern hatten Angst, dass ich in der Schule schnell als jüdischer Junge identifiziert würde, denn damals war es noch nicht so üblich wie heute, dass man sich häufig biblischer Namen bediente; damals war das überhaupt noch nicht gang und gäbe. Also hieß ich von einem Moment auf den anderen Dieter und das besondere aber war, dass die ganze Tarnung sofort aufgeflogen ist, denn als ich in die Schule kam, hat unser Lehrer in der allerersten Schulstunde die Religion abgefragt - es ging um die Einteilung in den Religionsunterricht - und da hab ich natürlich "jüdisch" gesagt und war sofort als jüdischer Junge geoutet. Und wie ich es sehe, habe ich einen wunderschönen Namen eingebüßt und eingetauscht gegen einen wesentlich weniger schönen, und das alles eigentlich sinnloserweise.



domradio.de: Waren die 50er Jahre wirklich noch so feindlich jüdischen Namen gegenüber und damit auch den Menschen? --
Graumann: Nein, das würde ich so generell nicht sagen, aber meine Eltern waren ja tief traumatisiert, meine Eltern sind ja Holocaustopfer, sie waren in verschiedenen Konzentrationslagern, haben praktisch ihre ganze Familie in der Shoah verloren, und darum waren sie ja wie alle Überlebenden tief gepeinigt und in der Seele und im Herzen zerrissen und hatten Angst um ihren Sohn, um ihr Kind. Das war das hauptsächlich Motiv und nicht die Feindseligkeiten der Umwelt, sondern die Angst, die Zerrissenheit, die Traumatisierung meiner Eltern.



domradio.de: Wenn Eltern in der Seele so tief verletzt sind - trägt ein Kind das weiter? Ist das Ihr persönliches Erleben? Wie wurden Sie von dieser Angst geprägt?--
Graumann: Ja, davon war ich und bin ich geprägt. Wir alle von der 2. Generation, wir sind ja sozusagen aufgewachsen als die Eltern unserer Eltern - wir hatten immer das Gefühl, dass wir unsere Elter behüten und beschützen mussten. Wir wussten alle genau, was sie durchgemacht haben. Ich bin ja mit Shoah-Geschichten aufgewachsen so wie andere Kinder mit Grimms Märchen, nur meine waren wahr und ohne Happ End und ich kannte sie genau und deshalb haben wir immer gespürt, wir müssen versuchen, den Eltern irgendwie zu ersetzen, was sie verloren haben. Und wir konnten das natürlich nicht so ganz und das war schon schwierig für uns Kinder, so aufzuwachsen. Auf der anderen Seite kannten wir es nicht anders und darum haben wir uns auch ein Stück in die Rolle hineingefügt, aber es war schon eine schwierige Rolle.



domradio.de: Eigentlich mussten Sie schon in ganz jungen Jahren sehr, sehr erwachsen sein. Haben Sie trotzdem so etwas wie Kindheit erlebt?--
Graumann: Ja, das habe ich trotzdem erlebt, natürlich, ich kannte es ja nicht anders, insofern habe ich auch gar nichts anderes vermisst. Aber weil ich weiß, dass die Prägung durch die Shoah auch in der 2. Generation so stark war und ist, bei all meinen Freunden und Schicksalsgenossen, deshalb will ich ja, dass es bei unseren Kindern anders sein soll, das ist ja ein großes Anliegen von mir, dass wir die Shoah als Juden bestimmt nie vergessen, ganz sicher nicht, aber dass wir uns davon nicht heute noch gefangen nehmen lassen, sondern dass wir sagen: Wir dürfen nicht nur in der Vergangenheit und in unseren Katastrophen leben, sondern ganz im Gegenteil: Wir müssen die Zukunft, die uns jetzt hier in Deutschland zuwächst auch aktiv und kreativ gestalten mit einem Stück Leidenschaft und Begeisterung. Und genau das will ich tun.



domradio.de: Und wenn Sie sagen "mit Leidenschaft und Begeisterung" - wie viel Mahnung sollte trotzdem noch darin stecken, weil es gibt ja auch im Deutschland von heute immer wieder gute Gründe, daran zu erinnern, nichts ist selbstverständlich.

Graumann: Ja, das stimmt, das ist ein Spagat. Ich möchte ja, dass wir aus dieser Rolle des Dauermahnens herauskommen, dass dieser jüdische Dauermahnsinn von uns selbst ein bisschen zurückgedrängt wird. Aber so sehr ich das will, so muss ich doch immer wieder manchmal darauf zurückkommen, dass wir in vielen Dingen unsere Stimme erheben. Und manchmal sind wir wirklich die Ersten, oft auch die Allerersten, die etwas sagen. Wenn es zum Beispiel in der Piratenpartei eine lässige Schnodderigkeit gab und gibt gegenüber Antisemitismus. Oder wenn bedenkliche Töne in der Linkspartei laut werden. Oder denken Sie an die Sarrazin-Debatte, da waren wir die Allerersten in ganz Deutschland, die ihre Stimme erhoben haben. Und in vielen anderen Dingen auch, dann stelle ich fest: Auf die Stimme des Zentralrats der Juden kann man in Deutschland immer noch nicht verzichten und keiner muss sich sorgen, keiner muss darauf verzichten.



domradio.de: Wie sehen Sie denn die Rolle der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum von heute? Im 2. Weltkrieg konnte man ja doch große Zweifel an der Integrität und Moral dieser Kirche haben. Wie sehen Sie es heute?

Graumann: Das Verhältnis hat sich dramatisch verbessert, ganz erheblich verbessert. Viele, viele Menschen haben Anteil in den letzten Jahrzehnten daran gehabt, der verstorbene Papst ganz besonders, aber auch der jetzige Papst setzt diesen Weg konsequent fort. Es gibt unsere Punkte, wo wir differieren, denken Sie an die Piusbrüder oder die mögliche Seligsprechung von Papst Pius XII - das ist der nächste Stolperstein, der drohen könnte. Aber alles zusammen ist es doch erheblich besser geworden und bei unserer Begegnung mit dem Papst im letzten Jahr habe ich festgestellt, dass wir eine ganze neue Nähe und Freundschaft entwickelt haben. Und ich muss sagen: Unsere Begegnung mit dem Papst war sehr positiv. Ich muss sogar sagen: Wir Juden waren mit unserer Begegnung mit dem Papst viel mehr zufrieden als die Protestanten mit ihrer Begegnung mit dem Papst. Und das kann man auch nicht jeden Tag behaupten.



domradio.de: Ihre Eltern sind ja trotz dieser unbeschreiblichen Erfahrungen, die sie machen mussten, nach Deutschland zurückgekehrt, haben ein Ja zu ihrer Kultur gesagt. Inwieweit hat auch das Sie bis heute geprägt? Was bedeutet es für Sie in diesem Land zu leben - vielleicht immer noch ein Land der Dichter und Denker?

Graumann: Ja gut, meine Eltern kommen ja aus Osteuropa, sie sind mehr zufällig nach ihren KZ-Erfahrungen hier gelandet und dann wieder hergekommen und hier geblieben. Aber ich lebe mein ganzes Leben hier und habe hier nicht nur die Sprache, die Kultur in mich aufgenommen, adoptiert, adaptiert und lebe ganz bewusst und sehr gerne hier, ich identifiziere mich inzwischen mit dem Land mit allen Vorteilen und weniger schönen Seiten, die jedes Land hat; man merkt es daran, dass ich als Fußball-Fan inzwischen auch zur deutschen Nationalmannschaft halte und ihr die Daumen drücke. Und ich sehe das bei unseren jungen Leuten, wo das noch viel besser ist, weil sie sich viel stärker und unverkrampfter, als wir das konnten, mit Deutschland identifizieren können. Und ich glaube, das zeigt, dass wir auf einem guten, dem richtigen Weg sind.



Das Interview führte Birgitt Schippers.



Hintergrund

Graumann wurde 1950 als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender in Ramat Gan bei Tel Aviv (Israel) geboren. Mit seinen Eltern kam er mit eineinhalb Jahren nach Deutschland und lebt seither in Frankfurt/Main. Hier machte er sein Abitur und studierte anschließend Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt dem sich ein Studium der Rechtswissenschaften am Londoner King"s College anschloss. Er promovierte 1979 über die Europäische Währungsunion und war für zweieinhalb Jahre Mitarbeiter in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Bundesbank. Darüber hinaus war er langjähriger Präsident von Makkabi Frankfurt und ist derzeit Ehrenpräsident des Clubs.



Privat betreibt Graumann eine Liegenschaftsverwaltung. Er ist seit 1995 Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und deren Dezernent für Finanzen, Schule, Kulturarbeit und Presse. Des Weiteren ist er Mitglied in der nach Georg Speyer benannten Georg und Franziska Speyer"schen Hochschulstiftung.



Im August 2009 gab er bekannt, für das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland kandidieren zu wollen.Graumann wurde als einer der beiden amtierenden Vizepräsidenten am 28. November 2010 ohne Gegenkandidat zum Präsident gewählt und trat das Amt am gleichen Tag an. Er ist damit der erste Präsident des Zentralrates, der den Holocaust nicht mehr miterlebt hat.



Graumann würdigt das deutsche Gedenken an NS-Opfer als eigentlich vorbildlich. Der Auschwitzbesuch einer DFB-Delegation im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2012 wurde von ihm jedoch heftig kritisiert. Die Abordnung von Spielern sei zu klein gewesen, sagte der fußballinteressierte Graumann. Im weiteren Zusammenhang wurde Teammanager Oliver Bierhoff von ihm wegen der Verwendung des Begriffs "Kamingespräch" kritisiert.



Das Urteil des Kölner Landgerichts vom 27. Juni 2012, das die Zirkumzision von Kleinkindern als Körperverletzung beurteilt hatte, bezeichnete Graumann als "kalt", "fachjuristisch" und "ohne Gefühl für Religion". Beschneidungen würden im Judentum seit über 4000 Jahren vorgenommen und ein konsequentes Weiterdenken dieses Urteils würde bedeuten, dass jüdisches Leben in Deutschland faktisch unmöglich gemacht werde. (Wikipedia)