Antisemitismus ist in Deutschland nach wie vor tief verwurzelt

Das latente Fünftel

Antisemitismus ist einem Expertenbericht zufolge in der deutschen Bevölkerung nach wie vor weit verbreitet. Er basiere auf Vorurteilen, tief verwurzelten Klischees und schlichtem Unwissen über Juden und Judentum, heißt es in dem am Montag in Berlin von einer unabhängigen Expertenkommission vorgestellten Antisemitismusbericht.

 (DR)

Laut Bericht der Forscher um den Londoner Zeithistoriker Peter Longerich sind rund 20 Prozent der Deutschen "latent antisemitisch". Angesichts moderner Kommunikationsformen wie des Internets sei eine Verbreitung judenfeindlichen Gedankenguts kaum zu unterbinden, warnen die Experten.



Die Tabuisierung des Antisemitismus in der Öffentlichkeit, wie sie bisher kennzeichnend für die Bundesrepublik war, drohe somit unwirksam zu werden, heißt es in dem rund 200 Seiten umfassenden Bericht. Daher seien "entschlossene Gegenmaßnahmen" nötig. Das "Expertengremium Antisemitismus" arbeitet seit Herbst 2009. Es war im November 2008 zum 70. Jahrestag der NS-Pogromnacht vom Bundestag beschlossen worden.



Die bisherigen Präventionsmaßnahmen wie die Bundesprogramme zur Förderung einer demokratischen Kultur seien verbesserungswürdig, schreiben die Experten. Es existiere keine "umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland". Projekte seien zu wenig aufeinander abgestimmt und befassten sich zu selten mit dem Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft. Zudem fehle es an "Verstetigung" der Programme, die oft nur Modellprojektcharakter hätten, kritisierte Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung.



Rechtsextremismus sei nach wie vor der "wichtigste politische Träger" für Antisemitismus in Deutschland, heißt es in dem Bericht weiter. Mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten würden durch Träger aus dem rechtsextremistischen Spektrum begangen.

Antisemitismus sei ein "wichtiges ideologisches Bindemittel" innerhalb des uneinheitlichen rechtsextremistischen Lagers, sagte Longerich.



Auch Islamismus birgt Gefahrenpotenzial

Ein erhebliches Gefahrenpotenzial besitze jedoch inzwischen auch der Islamismus, ergänzte Longerich. Es brauche dringend Untersuchungen, inwieweit über islamistische Gruppen auch unter in Deutschland lebenden Muslimen Antisemitismus verbreitet werde.



Die Forscher warnten auch davor, dass über die an sich legitime Israelkritik oftmals antisemitische Ansichten verbreitet würden. Laut Wetzel nimmt die judenfeindliche Kritik im Zusammenhang mit israelischer Politik in Deutschland derart zu, dass man von einem latenten Antisemitismus bei 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung sprechen könne.



Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sagte bei der Vorstellung des Berichts, Antisemitismus sei kein punktuelles, sondern ein dauerhaftes Problem. Serkan Tören (FDP) sagte, insbesondere in den Schulen müsse über einen neuen Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus nachgedacht werden. Es müsse etwas getan werden, damit auch die wachsende Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund die NS-Zeit als Teil ihrer Geschichte auffassten und Verantwortung übernähmen.



Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, bezeichnete es als alarmierend, dass Deutschland weit höhere Werte bei der Verbreitung antisemitischer Einstellungen erreiche als Italien, Großbritannien, die Niederlande und Frankreich.

Es brauche jetzt "neue, klügere Formen der gesellschaftlichen Erinnerungskultur". Erinnern und Gedenken seien kein Selbstzweck, sagte sie. Sie seien "Teil eines Erkenntnisprozesses, der den jungen Generationen vermitteln soll, dass der Mensch zu Unmenschlichkeit imstande ist".