Der jüdische Publizist Ginzel zum Fernbleiben des Zentralrats vom Holocaust-Gedenken

Verärgerung und Verunsicherung

Der Bundestag hat am Dienstag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Erstmals seit Einführung des Holocaust-Gedenktages hat kein Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland als Gast an der Gedenkfeier im Bundestag teilgenommen - eine Entscheidung des Zentralrats. Und eine falsche Entscheidung, kritisiert der jüdische Historiker, Journalist und Publizist Günther B. Ginzel im domradio. Zwar sei die "Verunsicherung jüdischer Menschen" im Augenblick groß. Aber das eine habe mit dem anderen nichts zu tun.

 (DR)

domradio: Eine Gedenkveranstaltung an die Opfer des Nationalsozialismus ohne Vertreter des Zentralrates - was empfinden sie, wenn Sie das hören?
Ginzel: Kummer, Trauer und auch einen Schuss Verärgerung. Ich halte diese Entscheidung für politisch, moralisch und ethisch für falsch.

domradio: Warum?
Ginzel: Es geht an diesem Tag um das Gedenken an alle Opfer des Dritten Reiches. Die Zuspitzung auf die Shoa ist sehr richtig und nachvollziehbar aufgrund annährend sechs Millionen ermordeter Menschen. Aber es ist ja "nur ein Teil" eines Verbrechens, das 20 Millionen Menschen betraf. Es gab tausende Konzentrations- und Arbeitslager. Wo immer die Nazis waren, gab es diese Lager und eine gezielte Vernichtungspolitik und betraf die nationalsozialistische Rassenpolitik viele Gruppen - von der katholisch-polnischen Intelligenz angefangen über die Sinti und Roma und Homosexuelle bis hin zu den Kriegsgefangenen der russischen Armee.
Es ist  in meinen Augen falsch, sich aus dieser Solidarität des Gedenkens, das ein verpflichtendes und in die Zukunft weisendes ist, hinauszubegeben.

domradio: Nun führt der Generalsekretär des Zentralrats, Kramer, auch einen zunehmenden Antisemitismus ins Feld - und zwar, wie er sagt, "mehr und mehr auch in der Mitte der Gesellschaft". Woran ist das erkennbar?
Ginzel: Ich kann diese Erklärung nachvollziehen. Die Beschreibung des Phänomens ist richtig, das ist zu beklagen. Hier gibt es enorme Defizite, die man ansprechen muss. Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Verunsicherung jüdischer Menschen im Allgemeinen und das der Funktionäre ist sicherlich beträchtlich. Man ist geschockt über den Schulterschluss zwischen Links-Anarchisten, Globalisierungsgegnern auf der einen Seite und radikalen Islamisten, Neo-Nazis auf der anderen, die  mit wortgleichen Parolen während des Gazakrieges demonstriert haben. Dabei ging es nicht darum, für Frieden und gegen das Morden zu demonstrieren oder Israel zu kritisieren. All das wäre legitim gewesen. Es wurde eine reine anti-israelische Position eingenommen, die soweit ging, dass viele Juden sich selber angegriffen fühlten. Das ist schmerzlich. Es ist schmerzlich, was wir im Vatikan gerade erleben. Diese enttäuschte Freundschaft, diese enttäuschte Liebe, diese Provokation des Vatikans gegenüber jüdischen Menschen! Das macht einen sprach- und fassungslos. Man hat das Gefühl, hier brechen alle Bastionen zusammen und man steht völlig alleine. Und ich glaube, dass sich aus diesem Gefühl heraus so manche Reaktion aufdrängt, die bei kühlerem Blut vielleicht nicht unbedingt die klügste war.

Hören Sie hier das Gespräch in voller Länge.

Hintergrund
Die Zentralrats-Präsidenten, die bisher alle Überlebende des Holocausts waren, seien nie offiziell vom Bundestagspräsidenten begrüßt worden, sagte der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer, dem epd in Berlin. Daher habe das Präsidium in diesem Jahr andere Termine anlässlich des Gedenktages wahrgenommen.

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