Feuerwehrkaplan starb an 9/11 als "Opfer Nr. 1"

"Er ist ein Heiliger"

Als verzweifelte Menschen am 11. September 2001 aus den brennenden Türmen des World Trade Center sprangen, stand Feuerwehrkaplan Mychal Judge am Ort der Tragödie und betete für die Opfer. Kurz darauf starb er selbst.

Autor/in:
Thomas Spang
11.09.2001, New York: Feuerwehrleute nähern sich den Überresten des World Trade Centers / © Ciaran Dougherty (dpa)
11.09.2001, New York: Feuerwehrleute nähern sich den Überresten des World Trade Centers / © Ciaran Dougherty ( dpa )

Franziskanerpater Mychal Judge wartete bereits in der Lobby des brennenden Nordturms, als die Feuerwehr ihren Kommandostand einrichtete. Kurz zuvor war ein zweites Passagierflugzeug wie eine Rakete in den benachbarten Zwillingsturm eingeschlagen.

Der ebenfalls herbeigeeilte Bürgermeister Rudy Giuliani bat den Feuerwehrkaplan für die Opfer und die Stadt zu beten. Die beiden französischen Dokumentarfilmer Jules und Gedeon Naudet, die einen Löschzug zum World Trade Center begleitet hatten, filmten den Priester in Uniform, der sich nicht davon abhalten ließ zum Fenster zu gehen.

"Er redete nicht vor sich hin, er betete"

Father Mychal wollte den Verzweifelten nahe sein, die auf der Flucht vor den Flammen in den Tod sprangen. Während andere wegschauten, sah er Dutzende Körper aufschlagen. Sein Freund Michael Duffy kannte ihn so gut, dass er seinem Ordensbruder von den Lippen lesen konnte. "Er redete nicht vor sich hin, er betete", sagt Father Michael, der Stunden mit den Aufnahmen der Dokumentarfilmer verbrachte. "Jesus, bitte beende dies sofort!", flehte er. "Gott, bitte beende dies!".

Mit schaurigem Grollen sackte der Südturm kurz darauf zusammen. Die ausgelöste Druckwelle ließ die Scheiben zerbersten, schleuderte den Priester durch die Lobby, im freien Fall die Treppe hinunter. Diese Wucht überlebte er nicht. "Dass er während seines Dienstes als Pastor für die in ihren Tod stürzenden Menschen dieses Ende fand, konnte nicht passender sein", meint der Franziskaner, der seit den 70er Jahren eng mit dem irisch-stämmigen Geistlichen befreundet war.

Der Polizei-Leutnant Bill Cosgrove entdeckte den reglosen Körper Father Mychals. Zusammen mit einer Gruppe von Rettungshelfern trug er den Leichnam aus dem Nordturm. Der Reuters-Fotograf Shannon Stapleton hielt den Moment auf einem weltberühmten Foto fest, das ein Feuilletonist später mit dem Titel "American Pieta" versah.

Sie brachten den als mit dem Kennzeichen DM0001-01 als "Opfer Nummer Eins" identifizierten Toten in die erste katholische Kirche New Yorks, St. Peter, die nur ein paar Schritte von "Ground Zero" entfernt liegt, und bahrten ihn vor dem Altar auf. "Er war nicht nur ein Held für das, was er am 11. September tat", erinnert sich der damalige Pfarrer der Gemeinde, Kevin Madigan. "In seinem Tod kulminierte seine ganze Seelsorge." Sollte er einmal heiliggesprochen werden, dann wegen allem, was er vorher getan hatte.

"Er hörte so genau zu, dass jeder das Gefühl bekam, der einzige auf der Welt zu sein", erinnert sich Father Michael Duffy im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) an die Präsenz des selbstlosen Priesters. Deshalb hätten sich ihm ungezählte Menschen "wie ihrem besten Freund gegenüber anvertraut". Die Armen und Reichen, Obdachlosen und Mächtigen, Aids-Kranken und Rettungshelfer gleichermaßen.

Etwa Lee Ielpi, der Gründer des 911 Tribute Museum und pensionierte Offizier der Feuerwehr, der monatelang in den Trümmern von Ground Zero nach seinem Sohn Jonathan suchte. "Er war einer dieser besonderen Menschen, die man selten im Leben trifft und nie vergisst", beschreibt Ielpi den bodenständigen Priester, der als Alkoholiker in jungen Jahren selbst ganz unten war. Und diese Erfahrung nie vergessen hat.

Nach seinem Tod sprach der damalige Feuerwehrchef von New York, Thomas Von Essen, über eine bis dahin unbekannte Seite des Franziskaners. Father Mychal habe ihm seine Homosexualität anvertraut, sich aber immer an seine Gelübde gehalten. Vielleicht auch deshalb setzte er sich besonders für Aids-Kranke ein. Beim Empfang der Sterbesakramente fragte ihn ein schwuler Todgeweihter einmal: "Glauben Sie, dass Gott mich hasst?" Father Michael küsste dem Mann auf die Stirn und hielt ihn in seinen Armen.

"Er ist ein Heiliger"

Zu der Trauerfeier in der St. Francis of Assisi Church gleich gegenüber der Penn Station, wo der Verstorbene als Jugendlicher Schuhe putzte, kamen mehr als 3.000 Menschen, darunter auch Ex-Präsident Bill Clinton und Hillary Clinton. Bürgermeister Giuliani fasste mit einem Wort zusammen, was viele der Anwesenden dachten: "Er ist ein Heiliger".

Father Michael Duffy erinnert sich noch genau an den Anruf seines Oberen, der ihm eröffnete, dass sein Freund ihn im Testament als Prediger für seine Trauermesse bestellt hatte. Erst zierte er sich, sprach dann aber doch. Father Mychal sei als Erster gestorben, um voranzugehen in die nächste Welt, sagte er der Trauergemeinde. Dort habe er all die toten Feuerwehrleute vom 11. September willkommen heißen können, und an der Hand zu Gott geführt.

Zwanzig Jahre später lacht der Franziskaner auf die Frage, ob er glaube, dass der Feuerwehrkaplan eines Tages heiliggesprochen werde.

Er habe die altmodische Vorstellung, "Heilige müssten perfekt sein", sagt er über seinen Freund und fügt hinzu. "Er war sicherlich ein Vorbild."


Quelle:
KNA
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