Lale Akgün zu den Folgen der Pariser Terroranschlägen

Für eine "Reformation des Islam"

Erneut erschüttert islamistischer Terror Europa. Und wieder wird er mit dem Koran begründet. Die deutsche Muslimin Lale Akgün äußerte sich bei domradio.de über die Chancen eines liberalen Islam und die Doppelzüngigkeit in Deutschland.

Imam mit Gebetskette / © Angelika Warmuth (dpa)
Imam mit Gebetskette / © Angelika Warmuth ( dpa )

domradio.de: Viele Muslime distanzieren sich vom Terror, andere wollen sich nicht distanzieren, weil der Terror gar nichts mit dem Islam zu tun habe. Stimmt das?

Lale Akgün (saß bis 2009 für die SPD im Bundestag und war eine von fünf MdB muslimischen Glaubens): Das stimmt nicht. Die Terroristen beziehen sich ja auf den Islam und den Koran. Dann zu sagen, das hätte damit nichts zu tun, ist einfach eine Verleumdung der Wirklichkeit. Dieser Terror wird mit dem Islam begründet, also müssen wir schauen, auf welche Koransuren sich diese Menschen beziehen und was sich im Islam ändern muss, damit ihnen diese ideologische Quelle versperrt wird.

Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass im orthodoxen sunnitischen Islam der Koran als Gotteswort und als unveränderlich gilt. Solange wir an dieser Ideologie festhalten und den Koran nicht zeitgemäß auslegen, werden wir uns mit diesen Attentätern auseinandersetzen müssen. Und aus Deutschland könnten die Impulse für eine Reformation des Islam kommen, weil wir hier Demokratie und Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit haben.

domradio.de: Wie könnte das aussehen?

Akgün: 90 Prozent der Muslime sind Sunniten und deren orthodoxer Islam bestimmt zu größten Teil die theologische Auslegung des Korans. Bestimmte religiöse Führungsfiguren geben vor, wie  - und nicht anders - dieses und jenes im Koran ausgelegt werden muss. Wir aber müssen fragen, wie wir Gottes Wort als Gottes Menschenwort verstehen und die zeitlich befristeten Suren auch als solche ansehen können.

Es gibt ja eine moderne, progressive Auslegung des Islam. Es gab sie z.B. noch vor 15 Jahren in Ankara an der Universität. Aber heute ist diese gleichgeschaltet mit Ägypten oder Saudi Arabien. Das ist sehr traurig, das waren die wichtigen Impulse für einen Islam, der zeitgemäß sein kann und muss.

Aber wir hier reden ja auch mit doppelter Zunge! Wenn wir einerseits akzeptieren, dass die Frauen Kopftücher tragen, weil das Gottes Gebot sei und im Koran stehe und auf der anderen Seite, wenn gesagt wird, dass der Terrorismus ebenfalls Gottes Gebot sei und im Koran stehe, das nicht akzeptieren.

Wir müssen endlich unterscheiden zwischen zeitlosen Suren und jenen, die zeitlich befristet sind und sich nur aus der damaligen Situation erklären lassen. Diese sollten keine Geltung mehr haben. Dafür braucht es aber mutige Theologen, die bestimmte Suren für nicht mehr bindend erklären. Das muss offensiv in die Moscheen hereingetragen werden! Die Imame müssen sehr deutlich aussprechen, dass die Täter keinen religiösen Rückhalt mehr haben für ihre Taten. Wir müssen den Koran heute anders verstehen. Man kann die Gewalt nicht mehr aus dem Koran herleiten. Aber das bereitet vielen Theologen Bauchschmerzen.

domradio.de: Statt solchen unbequemen Fragen nachzugehen, wird dann lieber über einen neuen Waffengang gegen den IS gesprochen, oder?

Akgün: Darüber sollte man sehr offen reden. Man kann versuchen, durch restriktive Gesetze mehr Kontrollen einzuführen oder den Terror zu bekämpfen. Aber solange man nicht die Quelle versiegen lässt, wird immer wieder neuer Nachschub kommen. Gegenschläge führen eher zu mehr Nachwuchs bei den Terroristen.

Wir sagen immer, wir wollen keinen politischen Islam, aber was ist denn eigentlich ein politischer Islam? Wir drücken uns davor, das zu definieren, und solange wir das tun, können wir das Problem nicht bekämpfen. Der politische Islam hat nun einmal die fürchterliche Seite, dass er sich auf den Koran beruft, und in dem Moment ist Religion sehr politisch und Politik sehr religiös. Aber diese Trennung, die Säkularisierung des Islam, ist eine unabdingbare Aufgabe, wenn man dem Terrorismus den Boden entreißen will.

domradio.de: Kann z.B. die EU so etwas von der Türkei fordern, jetzt wo man in der Flüchtlingsfrage von der Türkei abhängig ist?

Akgün: Die Politiker werden wieder sagen, sie wollten sich nicht in theologische Fragen einmischen. Und für die autoritären Länder ist es natürlich viel einfacher, die Scharia als Grundlage des Lebens zu nehmen, weil man damit Menschen und die Freiheit unterdrücken kann.

Das Interview führte Dr. Christian Schlegel.


Quelle:
DR