Vor zehn Jahren: Der erste "Ehrenmord" in Deutschland

"Sie hat sich benommen wie eine Deutsche"

Vor zehn Jahren wurde einer der ersten "Ehrenmorde" in Deutschland bekannt: Ihr Bruder erschoss die Deutsch-Türkin Hatun Sürücü. Der Grund: In den Augen ihrer streng muslimischen Familie lebte sie zu westlich.

Autor/in:
Markus Geiler
Gedenktafel für Hatun Sürücü (dpa)
Gedenktafel für Hatun Sürücü / ( dpa )

Die drei Kugeln, die Ayhan Sürücü seiner Schwester Hatun am Abend des 7. Februar 2005 in den Kopf schoss, waren für sein eigenes Ansehen: Der Mord sollte die Ehre der kurdisch-türkischen Familie wiederherstellen. Er forderte jedoch vor allem Opfer und zeigte, welche Parallelgesellschaften es in Deutschland gibt.

Nur wenige Tage nach der Tat nahm die Berliner Polizei Hatun Sürücüs Brüder Ayhan (19), Mutlu (26) und Alpaslan (25) fest. Im Juni klagte die Staatsanwaltschaft sie wegen gemeinschaftlichen Mordes aus niedrigen Beweggründen an. Mutlu soll die Waffe besorgt und Alpaslan seinen Bruder Ayhan zum Tatort begleitet haben, lautete der Vorwurf. Geschossen hatte Ayhan, der als Einziger die Tat gestand. Ayhans Motiv: Hatun habe sich benommen wie eine Deutsche. Deshalb musste sie weg, um die Familienehre wiederherzustellen.

Gegen die Familie aufgelehnt

Hatun wuchs mit fünf Brüdern und drei Schwestern in Berlin-Kreuzberg auf. Als sie sich mit Beginn der Pubertät immer mehr gegen ihre Familie auflehnte, meldete ihr Vater sie nach der 8. Klasse vom Gymnasium ab und zwang sie zur Ehe mit einem Cousin in Istanbul. Hatun wurde schwanger, überwarf sich mit ihrem Mann und seiner strenggläubigen Familie und kehrte allein nach Berlin zurück. Dort brachte sie 1999 ihren Sohn zur Welt.

Sie legte ihr Kopftuch ab und zog in ein Wohnheim für minderjährige Mütter. Dann holte sie ihren Hauptschulabschluss nach, bezog eine eigene Wohnung und begann eine Ausbildung als Elektroinstallateurin. Außerdem ließ sie sich einbürgern und verliebte sich in einen Deutschen. Für die Familie war das ein Affront.

Ihre Brüder bedrohten und beschimpften sie. Das hielt Hatuns Freund nicht aus, er trennte sich. Als die Drohungen der Familie immer deutlicher wurden, wandte sich Hatun an die Polizei und das Jugendamt. Hilfe bekam sie dort jedoch nicht, denn an einen „Ehrenmord“ wollte niemand denken. Wenige Wochen später starb sie.

Eine Mauer des Schweigens

Im Prozess gegen die drei Brüder sagte nur die damalige Freundin Ayhans aus. So soll sich die Familie vor der Tat in einer Moschee das «Okay» für den Mord geholt haben. Die Zeugin lebt noch heute im Zeugenschutzprogramm. Das Berliner Landgericht sprach die zwei älteren Brüder trotzdem frei, denn die Aussagen der Zeugin seien nicht zuverlässig gewesen, weil sie vieles nur vom Hörensagen gekannt hätte. Der Jüngste Bruder, Ayhan, wurde nach Jugendstrafrecht wegen Mordes zu einer Haftstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt.

Als der Bundesgerichtshof die Freisprüche ein Jahr später aufhob, lebten Alpaslan und Mutlu schon in der Türkei, dort lebt jetzt auch Ayhan, der im Sommer 2014 freikam. Er bereut die Tat bis heute nicht.

"Diese Vorstellungswelt hat bei uns keinen Platz"

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller erinnerte daran, dass der Mord an Hatun Sürücü die Stadt vor zehn Jahren tief erschüttert habe. Die Tat rufe bis heute Abscheu und Empörung hervor. Die Motive stammten aus einer Vorstellungswelt, die in unserer offenen und freien Gesellschaft keinen Platz habe. "Solche menschenverachtenden Vorstellungen haben erst recht nichts mit dem friedlichen Islam zu tun, der in Berlin und in Deutschland selbstverständlich sein Zuhause hat. Wir wissen, dass die große Mehrheit der Bürger mit türkischem und muslimischem Hintergrund solche Vorstellungen verurteilt", so Müller.


Quelle:
epd