Die Union nimmt die Scharia in den Blick - die SPD warnt vor Panikmache

Paralleljustiz in Deutschland?

Auch in Deutschland ist die Scharia immer wieder Thema. Offiziell gilt das islamische Gesetz nicht, praktisch ist es wohl häufig Grundlage für Rechtsprechung unter Muslimen. Die Union fragt deshalb: Paralleljustiz in Deutschland? Herausforderung für den Rechtsstaat?

 (DR)

Islamische "Paralleljustiz" wird aus Sicht des langjährigen ARD-Journalisten Joachim Wagner in Deutschland zu häufig ignoriert. Zur Integration müsse auch die Akzeptanz der Rechtsordnung gehören, sagte Wagner am Montag in Berlin bei dem Kongress der Unions-Bundestagsfraktion zum Thema. Diese Form der außergerichtlichen Streitschlichtung verfolge unter anderem die Ziele, die Polizei herauszuhalten und das Strafmonopol des Rechtsstaates zu unterlaufen, sagte der frühere stellvertretende Leiter des ARD-Hauptstadtstudios. Wagner, der ein Buch zur islamischen Paralleljustiz verfasst hat ("Richter ohne Gesetz"), forderte mehr "Abwehrbereitschaft" seitens der deutschen Justiz. So müssten etwa Zeugen und Verdächtige schneller vernommen werden. Zugleich sagte Wagner, Migranten vertrauten sich der "Paralleljustiz" unter anderem an, weil die deutsche Justiz gegenüber islamischen Werten gegenüber häufig mangelndes Verständnis aufbringe. Zudem würden Probleme auf diese Weise meist schneller und günstiger geklärt.



Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) sagte, wenn sich Friedensrichter auf islamisches Recht beriefen, liefen vor allem Frauen Gefahr, nicht gerecht behandelt zu werden. Merk erläuterte, die "Paralleljustiz" sei jedoch kein religiöses oder islamspezifisches Problem, sondern entstehe in integrationsfernen Milieus. Es müsse daher darum gehen, Wissens- und Vertrauensdefizite aufzuarbeiten, Dialog zu betreiben und die Justiz für das Thema zu sensibilisieren.



Die Publizistin Seyran Ates warnte davor, dass sich in Deutschland ähnlich wie in Großbritannien eine islamistische Paralleljustiz etablieren könnte. Die Einführung der Scharia in Deutschland müsse verhindert werden. In erster Linie betreffe dies das Familienrecht und Frauen und Kinder seien dann die Leidtragenden, weil die Scharia Frauen benachteilige.



Der Vizepräsident des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten, Peter Scholz, sagte hingegen, von einer Einführung der Scharia in Deutschland durch die sogenannten Friedensrichter könne derzeit nicht die Rede sein. Die Streitschlichtung unter Migranten, wie sie insbesondere bei kurdisch-libanesischen Clans vorkomme, sei in aller Regel nicht auf die Anwendung islamischen Rechts ausgerichtet. Migranten stehe es frei, ihre Streitigkeiten nach eigenen Prinzipien schlichten zu lassen, solange dies im Rahmen der deutschen Rechtsordnung geschehe, betonte Scholz. Auch gebe es keine allgemeine Bürgerpflicht, begangene Straftaten zur Anzeige zur bringen oder an ihrer Aufklärung mitzuwirken. Zugleich betonte er, dass die Justiz darauf zu achten habe, dass die Grenzen der außergerichtlichen Streitbeilegung eingehalten würden. Hierzu brauche es interkulturelle Kompetenz. Viele Bundesländer trügen dem bereits Rechnung, sagte Scholz.



"Wir müssen endlich zu einer verlässlichen Einschätzung kommen, ob Scharia-Recht nur ein Randphänomen ist oder ob es eine echte islamische Paralleljustiz in Deutschland gibt", sagte der Initiator des Kongresses, CDU-Rechtspolitiker Patrick Sensburg, gegenüber dem "Focus" im Vorfeld.



SPD warnt vor Panikmache

Die SPD bewertet die Beobachtungen der SPD kritisch, die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoguz warnt vor Panikmache. Die Debatte um die Anwendung der Scharia in Deutschland werde zu emotional geführt, sagte die Bundestagsabgeordnete am gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Titel der Unions-Tagung suggeriere etwas, "das es bei uns in der Praxis so grundsätzlich und umfassend nicht gibt". Özoguz betonte: "Grundsätzlich darf die Anwendung von ausländischem Recht in Deutschland im Einzelfall nur geschehen, wenn sie nicht mit dem Grundgesetz kollidiert."



Beispiele zeigten, dass die Anwendung dann Sinn mache, wenn es beispielsweise für die Frau nach deutschem Recht zu unnötigen Nachteilen käme. "Dies ist zum Beispiel im Erb- und Scheidungsrecht, aber auch im Wirtschaftsrecht der Fall", sagte Özoguz. "Es muss mit der generellen Vorstellung aufgeräumt werden, es gebe ein einziges Scharia-Recht", betonte sie. "Wissen kann in diesem Zusammenhang nicht schaden." Die Scharia beinhalte Lebensweisen und Normen und sei ein sehr komplexes System, das von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt sei.



Stichwort Scharia

Die Scharia, das islamische Gesetz, umfasst die religiösen Pflichten und alle Rechtsvorschriften, deren Beachtung nach islamischer Lehre über Lohn und Strafe im Jenseits entscheidet. Der arabische Begriff kommt im Koran vor und heißt so viel wie "Weg zur Wassertränke". Nach muslimischer Auffassung regelt die Scharia als göttliches Gesetz das Dasein des Einzelnen und der Gemeinschaft umfassend und vollkommen. Sie erfasst dem Anspruch nach alle Bereiche des religiösen, zwischenmenschlichen und staatlichen Lebens. Theoretisch gilt sie auch für Nichtmuslime und besteht unverändert bis ans Ende der Welt.



Entwickelt wurde die Scharia von islamischen Juristen des achten und neunten Jahrhunderts. Die beiden wichtigsten Quellen der Rechtsfindung sind der Koran und die überlieferten Aussagen und Taten des Propheten Muhammad. Daneben dienen der Konsens der Gelehrten und der Analogieschluss auf Grundlage vergleichbarer früherer Fälle als Kriterien für das richterliche Urteil. Die selbstständige Rechtsauslegung, der "idschtihad", gilt im sunnitischen Islam spätestens seit dem zehnten Jahrhundert als unzulässig.



Alle menschlichen Handlungen unterteilt die Scharia nach fünf Kategorien: pflichtgemäß, verboten, erlaubt, verpönt und empfehlenswert. Die einzelnen Bestimmungen sind in den Werken der vier sunnitischen Rechtsschulen kodifiziert, die sich nur in Details unterscheiden. Daneben haben die Schiiten eigene juristische Lehrbücher. Die meisten islamischen Staaten erkennen die Scharia zwar als Basis und Quelle ihrer Gesetzgebung an, besonders im Familienrecht. Sie weichen aber oft teils erheblich davon ab, etwa im Strafrecht. Am geringsten ist der Einfluss der Scharia in der Türkei. Dagegen beansprucht vor allem Saudi-Arabien, das islamische Gesetz in reiner Form umzusetzen.



Anfang April wurde bekannt, dass das Bundesjustizministerium noch in diesem Jahr eine Planstelle für Scharia-Recht einrichten will.



Absage der katholischen Kirche

Im Zusammenhang mit der Einschätzung des rheinland-pfälzischen Justizministers Jochen Hartloff (SPD), Scharia-Richter seien in Deutschland möglich, sagte der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke jüngst: "Das erscheint mir für einen Justizminister recht unüberlegt und ruft nur Emotionen auf den Plan." Er sei, so der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für den Dialog mit den Muslimen weiter, "für eine "moderne" Fassung der islamischen Scharia, aber das braucht noch viel Zeit und gute Entwicklungen bei den Muslimen." Auf keinen Fall dürfe der Eindruck entstehen, dass eine muslimische Rechtsprechung eigene Wege in der deutschen Gesellschaft gehe, sagte Jaschke.



Eindringlich rief der Weihbischof die Muslime dazu auf, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. "Ich habe Sorge vor Parallelorten, die sich bei uns entwickeln und dazu führen können, dass Unverständnis und Fremdheit wachsen." Es sei auffällig, dass Muslime ihre Identität deutlich zeigten, "aus meiner Sicht manchmal etwas übertrieben und nicht ohne Druck". Dies sei derzeit etwa in Ägypten und Libyen der Fall. "Dass sie auch in Deutschland zeigen wollen, dass sie als Muslime etwas Eigenes sind, kann ich verstehen. Aber sie müssen um die abschreckende Wirkung wissen", mahnte der Bischof.



Diese Tendenz könne auch mit den ausländerfeindlichen Morden durch Neonazis zusammenhängen. "Tatsächlich haben mir Muslime gesagt, sie würden es als Bedrohung erfahren und hätten Angst, angesichts dessen, was jetzt über die jahrelangen Anschläge von Rechts ans Licht gekommen ist." Das Wort von den "Dönermorden" sei in keiner Weise verharmlosend, sondern eine Beleidigung für Türken und Muslime. Es wecke böse Stimmungen, unterstrich der Bischof. "Aber mit Angst ist uns nicht gedient! Wir müssen offensiv das Zusammenleben und die Normalität in unserer Gesellschaft unterstreichen und fördern."