Die Terrorgruppe Boko Haram und die Krise Nigerias

Flucht in den Gottesstaat

Albtraum Boko Haram: Weit über 200 Menschen wurden seit Weihnachten bei Anschlägen der Islamisten auf christliche und staatliche Einrichtungen getötet, Hunderte waren es in den Vorjahren. Inzwischen ist die Gruppe, deren Name so viel bedeutet wie "Westliche Bildung ist Sünde", einer der wichtigsten Protagonisten der islamistischen Terror-Internationale. Eine Analyse.

Autor/in:
Christoph Schmidt
Kirche in Nigeria: Bedrohung steigt (KNA)
Kirche in Nigeria: Bedrohung steigt / ( KNA )

Eigentlich ist Ignatius Kaigama von Berufs wegen Optimist. Doch ein Ende der religiösen Gewalt in Nordnigeria ist für den Erzbischof von Jos nicht in Sicht: "Wir haben noch einen langen und harten Weg mit Boko Haram vor uns", prophezeite er Anfang der Woche.



Die Kampfarena der Terrorgruppe ist der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Auch wegen seines Ölreichtums zählt er zu den wichtigsten des Kontinents. Und zu den labilsten. Außer ihrem Ziel, das religiös geteilte Nigeria zu einem islamischen Gottesstaat zu bomben, ist über die fanatischen Eiferer allerdings nicht viel bekannt. Die in den Medien oft verwendete Bezeichnung als "Sekte" scheint fehlzugehen, spätestens seit ihre charismatische Gründungsfigur Mohammed Yusuf 2009 erschossen wurde und ein Kommando-Rat die Gruppe führt. Sie wähnt sich vielmehr als Vollstrecker sunnitischer Orthodoxie, also fest auf dem Boden des Koran. Das ist sichtbar auch an der Selbstbezeichnung als "Vereinigung der Sunniten für die Einladung zum Islam und den Dschihad" und die postulierte Nähe zu den afghanischen Taliban.



Gerechte Verteilung von Macht, Land und Öl-Reichtum

Somit wäre Boko Haram vor allem Teil des Gewaltproblems, das der Islam an seinen extremistischen Rändern als Weltreligion endlich in den Griff bekommen muss. Dafür sprechen auch mutmaßliche Kontakte von Boko Haram zur "El-Kaida im Maghreb" und den somalischen Al-Shabaab-Milizen.



Erzbischof Kaigama und andere verneinen jedoch, dass die Angriffe der Islamisten in erster Linie religiös motiviert sind. "Es geht um die gerechte Verteilung von Macht, Land und Öl-Reichtum. Das Streben nach dem Gottesstaat ist nur ein religiös und gewalttätig aufgeladener Ruf nach Gerechtigkeit." Auch dafür spricht einiges. Das islamische Nordnigeria ist noch ärmer als der christliche Süden, wo das Öl fließt, zählt aber zwei Drittel der Bevölkerung. Die arabisierten Haussa leben überwiegend von der Viehzucht, die christianisierten schwarzafrikanischen Völker dagegen vom Ackerbau. Ethnische Konflikte um Boden sind vorprogrammiert, der Hass entlädt sich gegen die schutzlose christliche Minderheit im Norden.



Reiches Land, arme Menschen

Insgesamt leben laut dem katholischen Hilfswerk missio bis zu 70 Prozent der Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung habe besonders in den vergangenen Jahren unter den Vorzeichen des globalen Kapitalismus und steigender Lebensmittelpreise zugenommen. Millionen arbeitsloser Jugendlicher treiben sich bettelnd oder mit Gelegenheitsjobs in den explodierenden Städten des Nordens herum - potenzielles Kanonenfutter für Boko Haram, deren harter Kern nach vagen Schätzungen aber nur um die 1.000 Kämpfer zählt.



Die Kleptomanie der nigerianischen Eliten gleich welcher Religion ist derweil berüchtigt. "Unsere Gouverneure haben ihre Bundesstaaten in Lehensgüter verwandelt", schreibt der muslimische Schriftsteller Kabiru Lawanti. Und das, obwohl die nördlichen Staaten vor gut einem Jahrzehnt die Scharia eingeführt haben. Der Generalvikar von Kaduna, Matthew Hassan Kukah, gibt zu bedenken, auch deshalb sei die Gewalt enttäuschter Islamisten eskaliert. Im Namen des wahren Islam wüten sie auch gegen ihre Glaubensbrüder, die als Polizisten und Beamte den korrupten Staat repräsentieren.



Für Kukah ist Boko Haram vor allem Symptom einer Modernisierungskrise der Muslime. "Die Bildung, die ihnen die Koranschulen zuteilwerden ließen, war ausgelegt für eine Welt, die immer rascher verschwand, während die neue Welt nichts mit ihnen anfangen konnte." Trotzdem schießen mit Geld aus den Golfstaaten immer neue Medresen und Moscheen aus dem Boden, in denen radikale Prediger "westliche Bildung" mit Werteverfall, materieller Gier und Identitätsverlust gleichsetzen. Allgemein gelte die Ansicht, dass der lange Kontakt mit der westlichen Zivilisation auch kulturell zur Verarmung geführt habe.