Archäologe Sörries über die Geschichte der Jesus-Überreste

"Reliquien wurden geraubt, gestohlen und verkauft"

Seit Jahrhunderten werden Reliquien verehrt. Auch heute noch pilgern Menschen zum Grabtuch von Turin oder zum Heiligen Rock nach Trier. Der evangelische Pfarrer und Archäologe Reiner Sörries ist der Geschichte der Jesus-Reliquien nachgegangen. Im Interview erklärt der Erlanger Wissenschaftler die Faszination, die Reliquien bis heute auf gläubige Menschen ausüben.

 (DR)

KNA: Herr Sörries, was ist eigentlich eine Reliquie?

Sörries: Reliquien sind menschliche Überreste, Knochen, Skelette aber auch die Kleidung oder andere Gegenstände von Märtyrern oder Heiligen, die von Gläubigen verehrt werden. Menschen suchen bei diesen Objekten Segen und Heilung. Deshalb sind sie für die katholische Kirche sehr wichtig.



KNA: Jesus, so glauben die Christen, ist auferstanden. Was für Reliquien sind da zurückgeblieben?

Sörries: Alles, was Jesus am Körper trug, seine Kleider, wie zum Beispiel der Trierer Rock. Zu den Jesus-Reliquien gehören aber auch Dinge, die Jesus berührt hat, etwa der Abendmahlskelch. Der Überlieferung nach soll es auch einige Körperreliquien von Christus

geben: Tränen, die er im Garten Gethsemane geweint hat oder das Präputium, die Vorhaut Christi, die über viele Jahrhunderte verehrt wurde.



KNA: Von der soll es gleich mehrere gegeben haben. Wie viele Vorhäute hatte Jesus denn?

Sörries: In der alten Kirche war es Praxis, Reliquien zu vermehren. Indem man sie geteilt hat, oder durch Berührung mit anderen ähnlichen Objekten, die dann ebenfalls zu etwas Heiligem wurden. Im Lauf der Zeit entstanden so viele Berührungsreliquien. Im Verständnis der Menschen der damaligen Zeit waren diese jedoch alle "echt".



KNA: Sind Reliquien etwas typisch Christliches?

Sörries: Nein. Auch in der Antike, bei den Griechen und Römern, gab es einen Kult um die Überreste bedeutender Menschen, zum Beispiel von Alexander dem Großen. Muslime verehren die Barthaare des Propheten, die in Istanbul verwahrt werden.



KNA: Sie unternehmen in Ihrem Buch einen Streifzug durch die Geschichte der Reliquien. Wie ist die denn verlaufen?

Sörries: Jede Reliquie hat ihre eigene Geschichte. Oft kann man diese über viele Jahrhunderte zurückverfolgen, vielfach sogar bis ins 4. Jahrhundert nach Christus, als die ersten Jesus-Reliquien von Kaiserin Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, gefunden wurden.

Teilweise lässt sich der Weg einzelner Objekte von Jerusalem ausgehend über Konstantinopel bis nach Westeuropa nachverfolgen.



KNA: Auch die des Heiligen Rocks von Trier?

Sörries: Der Legende nach soll Kaiserin Helena in Jerusalem das heilige Kreuz ausgegraben und dabei die Tunika Jesu entdeckt haben.

Sie brachte sie nach Trier und schenkte sie der Kirche.



KNA: Mit den Überresten von Jesus wurde ja auch viel Schindluder getrieben...

Sörries: Reliquien wurden geraubt, gestohlen und verkauft. Die berühmteste Räuberin und Händlerin war Venedig. Dem Dogen Enrico Dandolo war es gelungen, den vierten Kreuzzug (1202-1204) nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul umzuleiten. Statt das Heilige Land zu befreien, eroberten die Kreuzritter die Hauptstadt des byzantinischen Reiches und raubten die Schätze und Reliquien. Ein Teil des Raubgutes befindet sich bis heute im Markusdom.



KNA: Durch alle Jahrhunderte pilgerten die Menschen scharenweise zu den Überresten von Heiligen. Wer profitierte davon?



Sörries: Reliquien waren im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein ein ganz bedeutender Wirtschaftsfaktor. Wenn sie gezeigt wurden, dann war das ein Event. Dann kamen die Pilger, Händler, Bettler, Huren und Gaukler. Der Stadt - sei es Trier, Aachen oder Maastricht - spülte das viel Geld in die Kassen. Auch die Kirche verdiente gut an den heiligen Objekten, denn die Pilger mussten für den Segen bezahlen.



KNA: Was fasziniert moderne Menschen heute noch an alten Knochen?



Sörries: Das Christentum lebt von der Erinnerung an historische Ereignisse. Reliquien, als ganz konkrete, greifbare Objekte, dienen dazu, sich diese Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Sie sind Zeugnisse der menschlichen Geschichte. Durch sie spürt der Einzelne, dass er in einem Fluss der Tradition und Überlieferung steht.



Das Interview führte Bettina Nöth.



Hinweis: Reiner Sörries "Was von Jesus übrigblieb. Die Geschichte seiner Reliquien", Butzon & Bercker 2012, 24,95 Euro.