Über die Bedeutung von Krankheit und Heilung in der Religion

"Jesus nimmt die Kranken wahr"

Wie werden Krankheit und Heilung in der Bibel dargestellt? Vor allem im Neuen Testament geht es vor allem ums Kümmern und Sehen, sagt Theologin Annette Weissenrieder. Ein Ansatz, der auch heute noch als Vorbild dienen könne.

Symbolbild: Jesus hält die Hand eines Mannes / © Motortion Films (shutterstock)
Symbolbild: Jesus hält die Hand eines Mannes / © Motortion Films ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In der Bibel geht es vor allem um das Heilen von Krankheiten, oder?

Annette Weissenrieder (Professorin am Institut für Bibelwissenschaften der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg): Zumindest im Neuen Testament geht es vorrangig um das Heilen von Krankheiten. In der Tat können wir sehen, dass dort ganz besonders ein Wort vorkommt, das wir eigentlich alle kennen, nämlich das Wort Therapie. Therapie kommt von therapeia. Und das meint ärztlich behandeln oder sich kümmern. Das bedeutet: Die Heilungen Jesu zeigen in erster Linie ein sich Kümmern, ein Wahrnehmen des Kranken in allen Facetten seines Leidens.

DOMRADIO.DE: Das heißt, dieses Kümmern wäre eigentlich ein Ansatz in der Bibel, den man für unsere heutige Medizin auch sehr gut nutzen kann.

Weissenrieder: Das Kümmern und das Sehen. Der zweite Aspekt ist das Sehen und genau Hinschauen. Sehen spielt in diesen Heilungsgeschichten eine sehr große Rolle. Das heißt, das Wahrnehmen des Menschen in diesen Lebenskontexten und die Frage: Wo treffen wir eigentlich auf Kranke?

In diesen neutestamentlichen Texten können wir sehen, dass die Kranken dort anzutreffen sind, wo es eigentlich lebensunwürdig ist - zum Beispiel in der Wüste oder am Rande der Stadt. Sie sind abgedrängt. Und das ist etwas, was wir - glaube ich - auch heute sehen können; dass wir Kranke sozusagen an den Rand drängen und nicht in der Mitte der Gesellschaft partizipieren lassen, zumindest sehr häufig.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie diese Bereiche Medizin und Religion gegenüberstellen, würden Sie sagen, es gibt so etwas wie eine christliche Medizin?

Weissenrieder: Eine christliche Medizin würde ich in dem Maße sehen, dass wir zeigen können, dass diese Heilungsgeschichten im Neuen Testament tatsächlich vor dem Hintergrund der antiken Medizin geschrieben wurden. Das heißt, dort wurde auch medizinisches Wissen eingetragen. Von daher tragen diese neutestamentlichen Heilungsgeschichten eben nicht nur religiöses Wissen mit sich, sondern auch in gleichem Maße medizinisches Wissen der Antike.

Und wir können sehen, dass sich das als zentraler Punkt durch die ganze Kirchengeschichte zieht. Das zeigt auch das Beispiel von Calvin, der die Krankenhäuser initiiert - eben genau vor dem Hintergrund, dass Christen und Christinnen sich ganz besonders den Kranken zuwenden sollen.

DOMRADIO.DE: Kranke Menschen gibt es aber natürlich in jeder Glaubensrichtung. Welche Fragen haben religiöse Menschen denn, wenn sie denn andere Fragen haben als nicht-religiöse Menschen?

Weissenrieder: Ich denke, eine vorrangige Frage ist die nach der Deutungskategorie der Krankheit. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde? Oder ist Krankheit eine Chaosmacht? Das ist, denke ich, eine religiöse Fragestellung.

DOMRADIO.DE: Bekommen wir darauf im Neuen Testament eine Antwort? Wie deutet das Neue Testament diesen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde?

DOMRADIO.DE: Dieser Zusammenhang wird aufgelöst. Es gibt eben gerade keinen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde. Lediglich in einer einzigen Heilungsgeschichte wird dieser Zusammenhang hergestellt, aber gleichzeitig auch aufgelöst, indem die Sündenvergebung und die Heilung aller Krankheiten nebeneinander gestellt werden und das Erbarmen Gottes mit einem Vater verglichen wird, der sich seinen Kindern zuwendet. Das heißt, entscheidend ist, dass in der Präsenz und im Handeln Jesu Sünde und Krankheit ihre Präsenz und Macht verlieren. Und das ist, glaube ich, ein zentraler Punkt.

Dadurch wird deutlich, dass die Deutungskategorie für Krankheit eben nicht die Sünde ist, sondern die Zuwendung. Eine andere mögliche Deutungskategorie ist möglicherweise die Frage nach den Dämonen, die in den Krankheitsgeschichten vorkommen.

Diese Dämonen werden in die Erzählungen eingeschaltet, um eine Unterscheidung herzustellen zwischen der Person des Kranken und der Krankheit selbst, die als eigenständige Person den Kranken gleichsam von außen überfällt. Dadurch wird der Kranke von der religiösen Verantwortung für Krankheit befreit. Damit ergibt sich ein paradoxer Sachverhalt; dass nämlich die Einführung eines Dämons der Entdämonisierung der Krankheit dienen soll. Das finde ich einen interessanten Aspekt. 

Das Interview führte Verena Tröster.


Quelle:
DR