Theologe über die Bräuche rund um Sankt Martin

Vom Saufgelage zum Heiligentag

Gripschen oder schnörzen? Im DOMRADIO.DE-Interview erklärt Brauchtumsforscher Manfred Becker Huberti, woher regionale Unterschiede beim Martinssingen kommen und warum das Sankt Martinsfest mit einem feuchtfröhlichen Fest zu tun hat.

Sankt Martinszug in Bonn Beuel / © Melanie Pies (KNA)
Sankt Martinszug in Bonn Beuel / © Melanie Pies ( KNA )

DOMRADIO.DE: Erklären Sie uns die Tradition des "Gripschens". Wo kommt das her?

Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti (Brauchtumsforscher und Buchautor): Der Generalbegriff für diesen Umstand ist das "heischen". Das bezeichnet das Recht der Armen und Kinder an allen christlichen Festen teilzunehmen. Christliche Feste waren immer offen. Das heißt, die Tür stand für diese Gruppe auf. Drinnen saß man an einem Tisch, an dem es ein zusätzliches Gedeck für jemanden gab, der noch hätte kommen können – nämlich Christus. Die Tür war dementsprechend angelehnt, sodass die, die draußen waren, kommen und bitten konnten.

DOMRADIO.DE: Und aus "heischen" ist dann irgendwie "gripschen" geworden?

Becker-Huberti: "Heischen" kommt aus dem Hochdeutschen. Und natürlich ist er überall eingemeindet worden. "Gripschen" heißt greifen – nach etwas greifen oder andere sagen betteln. "Schnörzen" ist ein Begriff, von dem ich noch nicht weiß, wo er herkommt. Es gibt eine ganze Menge unterschiedlicher Begrifflichkeiten, die den gleichen Sachverhalt benennen.

DOMRADIO.DE: Sie haben gerade schnörzen angesprochen. Eine Hörerin hat bei Facebook diesen Begriff ins Spiel gebracht. Auch "dotzen" und kötten" haben ich gelesen. Wissen Sie, wo das herkommt und wo das zu finden ist?

Becker-Huberti: Ja, das kommt aus dem Westfälischen. Ein Kötter ist ein ärmerer Bauer, der eine kleine Hütte hat, eine Kate oder ein Kotten. Und wer köttet, der bettelt.

DOMRADIO.DE: Es gibt also regional viele ganz unterschiedliche Begriffe. Wie kommen diese Unterschiede zustande? Ist das wirklich rein die Region, die diesen Unterschied ausmacht?

Becker-Huberti: Das macht die Sprache aus. Dass wir eine gemeinsame Sprache sprechen, ist ja noch gar nicht so alt. Es entwickelt sich erst mit Luther im 16. Jahrhundert. Bis dahin konnten zum Beispiel ein Sachse und ein Westfale sich nicht verstehen, weil sie nur ihren Dialekt sprachen und keine gemeinsamen Begriffe hatten. Das war ungeheuer schwierig. Deshalb war das Lateinische oft hilfreich.

DOMRADIO.DE: Es gibt viele Gegenden, wo das Singen nach dem Martinszug überhaupt nicht bekannt ist. Zum Beispiel im Sauerland – oder auch Hörer aus dem Ruhrgebiet haben uns geschrieben, dass sie diese Tradition gar nicht kennen.

Becker-Huberti: Bei unserem Martinsbrauchtum gibt es einen Bruch im 19. Jahrhundert. Bis dahin ist Sankt Martin eher ein zweites Erntedankfest, das vom Gedenken an den Heiligen Martin überlagert wird. Da geht es darum, dass man es sich gut gehen lässt, sich den Bauch vollschlägt, den neuen Wein probiert und Fress- und Sauflieder singt.

Und erst als dieses Martinsbrauchtum dem 19. Jahrhundert geändert wird, da bekommt es einen katechetischen Beigeschmack. Ein Teil des Brauchtums wie das "Heischen" bleibt erhalten, ein Teil davon wird kultiviert: In dem Sinne, dass jetzt Gruppen aus irgendwelchen Schulen umherziehen, Lieder darbieten und dafür eine Gabe erbitten. Das ist zum Teil im Sauerland erhalten geblieben. Und so mischt sich dieses Brauchtum heute.

 

DOMRADIO.DE: Herr Becker-Huberti, wenn ich dieses Martinslied heute Abend bei unserem Martinszug in Düsseldorf anstimmen würde, wäre die Verwirrung groß, oder?

Becker-Huberti: Das würde keiner kennen. Aber in Köln ist es in vielen Varianten zu Hause. Und die Version, die gerade gesungen wurde, ist eine besonders interessante, weil nämlich zwei Lieder in eins gehen. Das ist das Heische-Lied, das hinten dranhängt: "Hier wohnt ein reicher Mann, der uns etwas geben kann" – das kennt natürlich auch jeder in Düsseldorf. Aber der erste Teil, der typisch kölsch ist, ist eine Doppelung. Der redet vom kleinen "Jüppchen", der macht also doppelt klein. Der ist nicht nur klein, weil er nicht "Jupp" sgat, sondern "Jüppchen", aber doppelt genäht hält ja in der Regel besser.

"Der heilige Sankt Martin, das war ein guter Mann. Der gab den Kindern Kerzchen, die stach er selber an", also die zündete er selber an – das ist das, was gesungen wird. Und was danach kommt, das weitete das alles aus. Es ist so etwas, was auf des Messers Schneide läuft. Es ist einerseits Reverenz gegenüber dem Heiligen Sankt Martin. Auf der anderen Seite ist das mit so einer gewissen kleinen Frechheit versehen, so ein rheinischer Katholizismus, der das Ganze nicht so übermäßig ernst nimmt.

Dann heißt es nämlich weiter: "Der Heilige Sankt Martin, der kommt auch heut' zu uns. Drum gehen wir mit den Fackeln, es freut sich klein und groß und so weiter. Der Heilige Sankt Martin reitet an der Tür entlang und er segnet jedes Haus und die Herzen, die Frösche im Schuppen und in der Scheuer. Also, auch das sind so kleine Ausreißer, die das Ganze mit einem Lächeln versehen.

Das Gespräch führte Carsten Döpp.


Manfred Becker-Huberti / © Harald Oppitz (KNA)
Manfred Becker-Huberti / © Harald Oppitz ( KNA )

Sankt Martin auf dem Pferd / © Markus Nowak (KNA)
Sankt Martin auf dem Pferd / © Markus Nowak ( KNA )
Quelle:
DR