Im syrischen Madaja bleibt die Lage von Kindern dramatisch

"Schlafmittel gegen den Hunger"

In der abgeriegelten syrischen Stadt Madaja sind Hilfslieferungen eingetroffen. Doch vor allem der Zustand vieler Kinder sei nach wie vor äußerst kritisch, berichtet die syrische SOS-Mitarbeiterin Abeer Pamuk im Interview.

Syrische Kinder / © Mohammed Badra (dpa)
Syrische Kinder / © Mohammed Badra ( dpa )

KNA: Frau Pamuk, Sie waren vergangene Woche in Madaja - wie ist die Lage dort?

Abeer Pamuk: Die Stadt ist wie ausgestorben. Es gibt keinen Strom. Den Kindern, die wir in den Häusern angetroffen haben, fehlte jegliche Energie zum Spielen. Sie sind ausgemergelt und blass, können nur langsam sprechen und kaum laufen. Sie zeigten deutliche Anzeichen von Mangel- und Unterernährung wie Hautkrankheiten und schlechte Zähne.

Besonders gefährlich ist die Lage für Babys. Ihren Müttern fehlt die Milch zum Stillen, und die Säuglinge sind zu jung für alternative Nahrung. Mütter haben uns erzählt, dass sie ihren vor Hunger schreienden Kindern Schlafmittel geben, damit sie wenigstens für ein paar Stunden nicht leiden. Eine Mutter machte mir die Dramatik der Situation mit einem Satz klar: "Mich interessiert nicht, was meine Kinder künftig werden, ob sie zur Universität gehen oder einen Beruf erlernen. Ich will nur, dass sie den morgigen Tag überleben."

KNA: Wann hat der letzte Hilfskonvoi die Stadt erreicht? Sind die Menschen aktuell mit dem Nötigsten versorgt?

Pamuk: Der letzte Hilfskonvoi erreichte die Stadt am Montag, aktuell können sich die Menschen von den Hilfslieferungen ernähren. Das Problem ist aber, dass viele Menschen nach Tagen des Hungerns nicht mehr in der Lage sind, Nahrung aufzunehmen. Sie verhungern trotz Lebensmitteln, wenn sie keine ärztliche Hilfe bekommen. Außerdem fürchten sie sich vor dem, was geschieht, wenn die Hilfe plötzlich wieder eingestellt wird - viele Menschen essen deshalb nur sehr kleine Portionen und sparen die übrigen Lebensmittel auf, aus Angst davor, erneut hungern zu müssen. In den vergangenen Wochen haben sie von Gras gelebt, von Blättern und in Wasser gekochten Kräutern. Sie fürchten, erneut in diese Situation zu geraten.

KNA: Welche Hilfe benötigen die Menschen derzeit am dringendsten?

Pamuk: Die einzige Lösung für die Menschen von Madaja und die Bevölkerung in anderen abgeriegelten syrischen Städten ist ein Ende der Belagerung. In der momentanen Situation können sie nicht für sich selbst sorgen, sie können sich keine Nahrung beschaffen. Die Wälder sind vermint, damit die Bewohner nicht aus der Stadt fliehen können. Viele Kinder wurden beim Sammeln von Nahrungsmitteln in den Wäldern durch diese Minen verletzt, manche getötet. Dadurch leben sie in ständiger Angst davor, was geschieht, wenn die internationale Gemeinschaft ihre Hilfe einstellt und die öffentliche Aufmerksamkeit nachlässt.

KNA: Im Gespräch waren jüngst Rosinenbomber, Flugzeuge, die Hilfsgüter aus der Luft abwerfen. Wäre das eine Option?

Pamuk: Jede Hilfslieferung, ganz gleich auf welche Art und Weise, ist im Moment hilfreich. Allerdings sind das akute Nothilfen für den Moment. Die internationale Gemeinschaft muss sich für ein Ende der Abriegelung einsetzen, nur so ist den Menschen wirklich geholfen - auch mit Blick auf die medizinische Versorgung. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, haben berichtet, dass es nur einen Arzt in Madaja gibt. Selbst wenn sie nicht verhungern, ist das Risiko, dass sie an Krankheiten oder Verletzungen sterben, groß.

Wir haben zum Beispiel zwei unbegleitete minderjährige Kinder getroffen, ihr Vater ist verhungert, ihre Mutter war unterwegs, um Nahrung zu suchen. Sie hatten sich alleine in einem Zimmer eingeschlossen. Um zu heizen, haben sie Plastik verbrannt und wären daran fast erstickt. Ihr allgemeiner Gesundheitszustand war sehr schlecht. Auch viele andere Kinder, die wir getroffen haben, waren zum Teil schwer krank.

KNA: Was macht die Arbeit der Hilfsorganisationen in Madaja derzeit so schwierig?

Pamuk: Das Problem ist, dass es hier nicht nur um eine Stadt geht. Zwei Städte im Norden Syriens, Foua und Kafraya, sind ebenfalls von Kriegsparteien besetzt. Jede dieser Parteien agiert nach dem Prinzip: Lasst ihr unsere Familien hungern, hungern wir eure aus. Das heißt, dass das Schicksal der Menschen aus Madaja abhängig ist vom Schicksal der Bewohner von Kafraya und Foua und umgekehrt. Das bedeutet wiederum für Hilfsorganisationen wie die SOS-Kinderdörfer und den Roten Halbmond, dass wir mit allen Parteien gleichermaßen verhandeln müssen. Soll eine Hilfslieferung nach Madaja gelangen, müssen zur gleichen Zeit gleich Lebensmittel in Foua und Kafraya eintreffen. Mit der Evakuierung von Kindern verhält es sich nicht anders. Dabei sollten vor allem die Kinder unverzüglich aus der Stadt gebracht und angemessen versorgt werden.

Das Interview führte Inga Kilian.


Quelle:
KNA