Mehr als eine halbe Million Menschen in Kamerun auf der Flucht

Eine Krise ist Alltag

Keine andere Krise weltweit wird so vernachlässigt wie die in Kamerun. Eine neue Gewaltwelle ist ausgebrochen, aber Pläne für ein Ende der Krise gibt es nicht. Kirchliche Organisationen wollen vermitteln.

Autor/in:
Katrin Gänsler
Nigerianische Flüchtlinge in Kamerun aus dem Jahr 2016 / © Ngala Killian Chimtom (dpa)
Nigerianische Flüchtlinge in Kamerun aus dem Jahr 2016 / © Ngala Killian Chimtom ( dpa )

Simon Ovanze Egbile hat den einzigen Raum in seinem Haus notdürftig in zwei Zimmer unterteilt. "Für uns alle ist es viel zu klein, weshalb ich im Dorf in der Nähe ein weiteres Haus gemietet habe", sagt der 36-Jährige, der mit seiner Frau, den zehn Kindern und seiner blinden Großmutter im Flüchtlingscamp Anyake im nigerianischen Bundesstaat Benue lebt.

Seit mehr als einem Jahr ist es das provisorische Zuhause der Großfamilie geworden. Wann sie wieder zurück in ihr Heimatland Kamerun können, ist völlig ungewiss. "Es wäre gut, wenn die Vereinten Nationen endlich etwas unternehmen könnten", klagt der hagere Mann, der im anglophonen Teil Kameruns Kakao angebaut und Handel betrieben hat.

Krise in Kamerun zwingt Zehntausende zur Flucht

Ins Nachbarland Nigeria haben sich mittlerweile rund 35.700 Menschen geflüchtet. "Es kommen noch immer neue an, besonders wenn es wieder Angriffe in den Dörfern gibt", sagt Sally Ineji Okpaje, Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Gemeinsam mit nichtstaatlichen Partnern wie der katholischen Stiftung für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (FJDP) ist er für die Organisation des Camps und die Belange der Flüchtlinge verantwortlich.

Aktuell geht es in Anyake, das eine Autostunde von der Kreisstadt Adikpo entfernt liegt, darum, den Umzug der 4.312 Flüchtlinge zu organisieren. Mit der Kommune, die das Land zur Verfügung gestellt hat, gab es immer wieder Streit. Die Konflikte erschwerten den Zugang zum Camp und gefährdeten die Sicherheit der Bewohner.

Familien wurden und werden entzweit

Flüchtling Egbile hofft, im neuen Camp endlich etwas zur Ruhe zu kommen. Ihn quälen die Erinnerungen an Gewalt und Flucht. "Es gab regelmäßig Morde. Wir haben die Erschossenen gesehen und sind selbst in alle Richtungen gelaufen." Zu schaffen macht ihm auch, dass er nicht weiß, wie es seinen Verwandten geht und wo sie sich in Kamerun aufhalten. "Ich höre seit Monaten nichts mehr von ihnen." Weiter südlich im Camp von Ogoja, einer Stadt im Bundesstaat Cross River, berichtet Caritas Nigeria, dass unter den Flüchtlingen immer wieder Kinder seien, die ihre Eltern auf dem Weg nach Nigeria verloren hätten.

Über 500.000 Flüchtlinge in Süd- und Nordwesten Kameruns

In den beiden englischsprachigen Regionen Kameruns, Südwest und Nordwest, wo rund 20 Prozent der gut 25 Millionen Einwohner leben, sollen insgesamt 530.000 Menschen auf der Flucht sein. Die Denkfabrik International Crisis Group (ICG) mit Sitz in Brüssel kam Anfang Mai außerdem zu der Einschätzung, dass seit Herbst 2017 mindestens 1.850 Personen in dem Konflikt ums Leben gekommen sind. Allerdings ist es schwierig, verlässliche Informationen aus der Gegend zu bekommen, die weiterhin schwer zugänglich ist.

Dass Kamerun einen anglophonen und einen frankophonen Teil hat, liegt an der Kolonialgeschichte. Das Gebiet war einst deutsche Kolonie. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielten Frankreich und Großbritannien je ein Mandat. Nach der Unabhängigkeit stimmte der anglophone Teil dafür, sich dem frankophonen anzuschließen. Bewohner klagen seit Jahren über Benachteiligungen. Das verschärfte sich im Herbst 2016, als Anwälte und Lehrer gegen die zunehmende Frankophonisierung des Justiz- und Bildungssystems demonstrierten.

Längst fordern Separatisten die Bildung eines eigenen Staates. Es gibt keine Informationen darüber, wie viele Kameruner diese Idee tatsächlich unterstützen. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sorgen nicht nur Regierungstruppen, sondern auch die Separatisten für große Probleme. Im neuen HRW-Bericht steht, dass diese Dutzende Menschen gefoltert hätten.

Erzbischof Tumi will vermitteln

Seit Ende Juni heißt es nun, dass mithilfe der Schweiz und dem Zentrum für Humanitären Dialog (HD) Gespräche mit den Konfliktparteien geführt werden sollen. Lösungsansätze sollte auch die Anglophone Generalkonferenz (AGC) bringen, die der emeritierte Erzbischof von Douala, Christian Tumi, initiieren will. Das Datum wurde jedoch mehrmals verschoben. Einen neuen Termin gibt es nicht.

In Nigeria hofft Simon Ovanze Egbile, dass so wenigstens über die Krise in seinem Heimatland gesprochen wird. "Sie braucht mehr Aufmerksamkeit", sagt er. Zu dieser Einschätzung ist auch der Norwegische Flüchtlingsrat gekommen (NRC). Nach Ansicht der nichtstaatlichen Organisation gibt es weltweit keine derart vernachlässigte Krise wie die in Kamerun.


Quelle:
KNA