Nach vier Jahren Flucht wagt eine christliche Familie den Neuanfang

"Ich werde nie vergessen, was uns der IS angetan hat"

Im August 2014 erreichten die Truppen des IS Karakosch, die bis dahin größte christliche Stadt des Irak. Viele Christen waren zur Flucht gezwungen. Auch der Automechaniker Musa und sein Familie. Erst im November 2017 wagte die Familie ihre Rückkehr.

Autor/in:
Oliver Maksan und Tobias Lehner
Zerstörtes Ortszentrum von Karakosch nach der Befreiung vom IS / © N.N. (KiN)
Zerstörtes Ortszentrum von Karakosch nach der Befreiung vom IS / © N.N. ( KiN )

Musa ist ein Mann, der viel lacht und eine innere Ruhe ausstrahlt. Doch was dem 63-Jährigen und seiner Familie von den Truppen des sogenannten "Islamischen Staates" angetan wurde, macht ihn heute noch zornig: "Ich werde nie vergessen, was uns die Terroristen angetan haben."

Es war der 6. August 2014: Mitten in der Nacht mussten Musa, seine Frau und ihre sechs Kinder vor den heranrückenden Truppen des IS aus Karakosch fliehen, der bis dahin größten christlichen Stadt des Irak.

So erging es zehntausenden Bewohnern der Ninive-Ebene, seit den Tagen der frühen Kirche christliches Siedlungsgebiet. Sie ließen alles zurück und suchten Zuflucht in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan.

Drei Jahre heimatlos

Wie viele andere Vertriebene kampierten Musa und seine Familie die ersten Tage auf der Straße. Um sie auf die Schnelle unterzubringen, war der Ansturm der Geflüchteten zu groß – allein in Erbil waren es über 120 000. Staatliche Unterstützung blieb weitgehend aus. So war es die Kirche, die sich der Vertriebenen annahm. Bischöfe und Priester wurden über Nacht zu Krisenmanagern; Freiwillige packten rund um die Uhr mit an. So gelang es schnell, Musas Familie vorübergehend in einer Schule unterzubringen.

Dort mussten sie sich mit 25 anderen Geflüchteten einen Raum teilen. "Es war heiß und eng. Nach ein paar Wochen konnten wir aber in eine kleine Wohnung umziehen", erzählt Musa. Auch in der neuen Unterkunft lebte die achtköpfige Familie zusammen mit anderen Vertrieben.

Es sollte für mehr als drei Jahre ihr Zuhause werden. Die Miete bezahlte, wie für tausende andere Flüchtlingsfamilien auch, das weltweite päpstliche Hilfswerk "Kirche in Not". Musa ist bis heute dafür dankbar: "Wir hatten ja nur noch das, was wir am Leib trugen. Wir hätten uns nie eine Wohnung leisten können." Denn der gelernte Automechaniker fand keine Arbeit. Den Lebensunterhalt verdiente Musas Frau. Sie ist Lehrerin für Aramäisch, der Sprache Jesu.

"Alles war gestohlen"

Nach über zwei Jahren kam endlich die erlösende Nachricht: Die Ninive-Ebene ist vom IS befreit. Doch eine Rückkehr erschien Musa und seiner Familie erst noch zu gefährlich, für den Neuanfang fehlten die Mittel. Erst im November 2017 wagte Musa mit seiner Familie die Rückkehr nach Karakosch. Der Wut über die Gräueltaten des IS wich der Trauer: "Ich war schockiert über so viel Zerstörung.

Unser Haus stand zwar noch, aber es war leer – alles war gestohlen", erzählt Musa mit Tränen in den Augen. Er weiß bis heute nicht, wer für die Plünderung verantwortlich ist – der IS oder die Nachbarn der mehrheitlich muslimischen Dörfer ringsum. "Was bringt es, darüber nachzugrübeln? Es ist passiert. Es zählt nur die Zukunft."

Eine Zukunft in der Ninive-Ebene

Und diese Zukunft liegt für Musa in der Ninive-Ebene. An Auswanderung hat er nie gedacht. "So schwierig es auch ist: Wer hier über Jahrhunderte seine Wurzeln hat, wird immer wieder zurückkommen", ist er überzeugt. Viel ist seit der Rückkehr geschehen: Musa hat mit Helfern Fenster und Türen am Haus erneuert, die Räume neu gestrichen. "Kirche in Not" hat das möglich gemacht.

Das Hilfswerk hat zusammen mit lokalen Kirchenvertretern einen "Marshall-Plan" für den Wiederaufbau erstellt, finanziert Renovierungen, überwacht die Fortschritte. Und die sind sichtbar: Mitte Juli waren über ein Drittel der Gebäude renoviert und fast die Hälfte der Vertriebenen (44,63 Prozent) aus dem Nordirak heimgekehrt.

Zu Hause fühlen sich jetzt auch wieder Musa und die Seinen, vor allem seit es ihnen gelang, wieder ein paar Möbel aufzutreiben. "Ich bin den Wohltätern von Herzen dankbar. Ohne ihre Hilfe hätten wir nicht in unsere Heimat zurückkehren können", sagt Musa.

"Ich habe sehr deutlich gespürt, dass Gott mit uns ist"

Seine Tochter Miray stimmt ihm zu. Sie ist 25 und arbeitet als Krankenschwester. Wegen des Krieges musste sie 2014 ihre Ausbildung in Mossul abbrechen. Die Stadt war zum Zentrum der Kämpfe gegen den IS geworden und ist heute schwer zerstört. Erst mit einiger Verspätung konnte Miray ihre Ausbildung in Erbil fortsetzen.

Trotz aller Schwierigkeiten kann sie der Zeit dort einen Sinn abringen: "Ich konnte kranken Flüchtlingen helfen und habe so viele hilfsbereite Menschen kennengelernt. Das war eine gute Erfahrung für mich." Überhaupt: Die Menschen seien sich in den Jahren der Vertreibung nähergekommen. "Vorher ging es hier bei vielen Menschen nur um Materielles: mehr Häuser, mehr Geld. In der Zeit der Not haben sich die Menschen füreinander geöffnet", meint Miray. "Sie haben erkannt, dass es im Leben um mehr geht."

"Wir brauchen ihre Gebete"

An die Christen im Ausland appelliert sie, den Menschen in der Ninive-Ebene nicht nur materiell, sondern auch geistlich beizustehen: "Wir brauchen ihre Gebete." Ihr eigener Glaube sei in den zurückliegenden Jahren zwar auf die Probe gestellt, aber letztlich gestärkt worden: "Ich habe sehr deutlich gespürt, dass Gott mit uns ist", zeigt sich Miray überzeugt.

Die junge Frau würde gern studieren und Ärztin werden. Dazu wären allerdings im Ausland die Bedingungen besser. "Ich spare schon darauf", erzählt Miray. Doch langfristig sehe sie ihre Zukunft im Irak, auch wenn ihr die aktuelle Sicherheitslage Sorgen macht: "Ich will auf jeden Fall zurück, um den Menschen in meiner Heimat zu dienen."


Musa und seine Tochter Miray / © N.N. (KiN)
Musa und seine Tochter Miray / © N.N. ( KiN )

Renovierungsarbeiten in einem Wohnhaus in Karakosch / © N.N. (KiN)
Renovierungsarbeiten in einem Wohnhaus in Karakosch / © N.N. ( KiN )

Straßenbauarbeiten in der Ninive-Ebene / © N.N. (KiN)
Straßenbauarbeiten in der Ninive-Ebene / © N.N. ( KiN )
Quelle:
KiN