Weltkindertag nimmt Flüchtlingskinder in den Fokus

Traumatisiert und allein

Weltweit sind 28 Millionen Kinder auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Sie nimmt der Weltkindertag 2016 in den Fokus. Denn viel zu oft gehe das Thema in der allgemeinen Debatte unter, sagt Ninja Charbonneau von UNICEF gegenüber domradio.de.

Afghanische Flüchtlingskinder / © Christine Röhrs (dpa)
Afghanische Flüchtlingskinder / © Christine Röhrs ( dpa )

domradio.de: Gerade erst hat UNICEF den Bericht: "uprooted" veröffentlicht, das Ergebnis: Fast 50 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit sind in Folge von Flucht und Migration entwurzelt – mehr als die Hälfte von ihnen wurde durch Konflikte aus ihrem Zuhause vertrieben. Welche Regionen sind denn davon besonders betroffen?

Ninja Charbonneau (Pressesprecherin UNICEF Deutschland): Das ist ein globaler Bericht, es ging darum, erstmals zu zeigen, was wir eigentlich über Kinder, die entwurzelt sind, wissen. UNICEF hat alle verfügbaren Daten zusammengetragen, und das war gar nicht so einfach, denn es gibt nicht sehr viele, sowohl über Kinder, die auf der Flucht sind vor Konflikten und Kriegen, als auch über Kinder, die von Migration betroffen sind. Und das ist weltweites Phänomen. Es gibt keine Region, die davon nicht betroffen ist, dementsprechend ist es auch eine weltweite Verantwortung. Es gibt zum Beispiel Millionen Kinder, die aus Zentralamerika in die USA migrieren, wegen der extremen Armut, der Gewalt und Bandenkriminalität in ihren Heimatländern. Es gibt viele Millionen Kinder, die vor Terrormilizen fliehen, dem IS oder Boko Haram in Nigeria beispielsweise. Und natürlich die großen Kriege, von denen wir täglich in den Nachrichten hören, wie Syrien und Afghanistan.

domradio.de: Angesichts dieser Konfliktherde geraten andere Regionen in Vergessenheit, wie beispielsweise die Ostukraine. Sie waren zu Beginn des Jahres dort. Wie sehr sind die Kinder dort vom Krieg betroffen?

Charbonneau: Man hört und liest derzeit nicht viel über die Ostukraine, deshalb könnte der Eindruck entstehen, die Lage habe sich beruhigt. Das ist aber nicht so, der Konflikt ist nach wie vor ungelöst und er hat dramatische Auswirkungen auf die Kinder, von denen viele innerhalb des Landes vertrieben wurden. Möglicherweise hören wir deshalb nicht so viel darüber, weil es sich um Binnenflüchtlinge handelt, die uns hier in Europa nicht unmittelbar betreffen.

In Charkiw haben wir zum Beispiel viele Familien getroffen, die Binnenflüchtlinge sind. Und Partnerorganisationen im Osten berichten uns, dass rund 100.000 Kinder unmittelbar an der Front leben. Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen, etwa von Kindern, die auf Landminen treten und dabei ein Bein verlieren oder getötet werden.

Hinzu kommen die unsichtbaren Wunden, die die Kinder mit sich tragen, viele von ihnen sind traumatisiert, haben schreckliche Dinge erlebt, sind in Schulen bombardiert oder beschossen worden oder mussten mehrere Tage in Luftschutzkellern aushalten. Das sind Erlebnisse, die sie lange mit sich rumtragen und wo sie Hilfe brauchen, um das zu verarbeiten.

domradio.de: Kinder sind von Flucht besonders betroffen: Unter-18-Jährige stellen nur rund ein Drittel der Weltbevölkerung, aber die Hälfte der Flüchtlinge. Warum?

Charbonneau: Viele Herkunftsländer haben insgesamt eine jüngere Bevölkerung als wir hier in Deutschland. Länder wie Syrien, Afghanistan oder auch afrikanische Länder haben generell eine junge Bevölkerung, aber auch dort sind die Kinder unter den Flüchtlingen überrepräsentiert. Das liegt vor allem daran, dass natürlich auch dort die Eltern Sicherheit und Frieden für ihre Kinder wollen: Jeder, der irgendwie kann, bringt seine Kinder aus diesen Konfliktzonen heraus.

domradio.de: Es gibt viele Kinder, die nie etwas anderes als Krieg und Gewalt erlebt haben, weil die Konflikte in ihren Heimatländern schon so lange andauern. Welche Folgen hat das gesamtgesellschaftlich in vielleicht 20 bis 30 Jahren, wenn diese Kriegskinder erwachsen sind?

Charbonneau: Es gibt unmittelbare Folgen im Verhalten, sie sind traumatisiert, sie haben Alpträume, werden depressiv oder aggressiv, die Reaktionen auf solche Traumata sind sehr unterschiedlich.

Man kann dem entgegensteuern mit psychosozialer Hilfe, so wie wir das mit Kinderzentren weltweit machen, damit die Kinder zumindest die Möglichkeit haben, betreut zu spielen, das Erlebte zu verarbeiten und sich auf das Positive zurückzubesinnen. Das hat oft erstaunliche Ergebnisse, denn für viele Kinder ist das schon ausreichend, dass sie wieder Halt finden. Andere brauchen auch psychologische Hilfe. Und die langfristigen Folgen für die Gesellschaft sind enorm, denn wenn Kinder nichts anderes kennen als Gewalt und Verrohung, dann müssen sie erst wieder lernen, dass man Konflikte auch gewaltfrei löst.

Wie sehr solche Erlebnisse prägen, sieht man auch an unserer Kriegsgeneration, die bis heute davon spricht, als wäre es gestern gewesen. Das heißt, diese Kinder werden diese traumatischen Erlebnisse nie ganz vergessen, man muss ihnen aber die Chance geben, dass sie damit lernen, umzugehen.

domradio.de: Heute beginnt in New York bei den Vereinten Nationen der Weltgipfel zu Flucht und Migration - welche Rolle spielen da die Flüchtlingskinder? Wird das Thema hinreichend beachtet?

Charbonneau: Wenn Sie mich fragen: viel zu selten. Natürlich sind sie immer ein Thema unter vielen, aber viel zu selten werden sie als eigene Gruppe wahrgenommen, die nach der UN-Kinderrechtskonvention eigene Rechte und Bedürfnisse hat. Darauf versuchen wir aufmerksam zu machen. Es wird bei dem Gipfel eine Veranstaltung geben, an der Entwicklungsminister Müller teilnehmen wird. An diesem Sonntag gab es schon eine Mahnwache in New York. Wir werben dafür, dass sie mehr Schutz und Hilfe erhalten.

domradio.de: Was fordert UNICEF?

Charbonneau: Wir fordern, dass Kinder besser geschützt werden, egal, wo sie sich aufhalten, ob sie in ihrem eigenen Land auf der Flucht sind oder in einem anderen Kontinent sind, dass sie nicht interniert werden dürfen, nur weil sie auf der Suche nach einem sichereren Leben sind. Wir fordern, dass sie vor Menschenhandel geschützt werden aber auch – denn das ist der beste Schutz – Familienzusammenführungen erleichtert werden. Und dass sie in den Zielländern die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen und integriert werden.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.


Quelle:
DR