Mit Bruder Johannes unterwegs im "Dschungel" von Calais

Die gute Seele des Flüchtlingscamps

Jeden Tag kümmert sich Bruder Johannes um die Menschen im Flüchtlingslager in Calais. Er nimmt sich Zeit, hört zu. Ob im Krankenhaus, der Kirche oder auf den staubigen Wegen im Camp - der Mönch ist ein willkommener Gast.

Autor/in:
Franziska Broich
Bruder Johannes im Flüchtlingslager von Calais / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Bruder Johannes im Flüchtlingslager von Calais / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

In seiner hellblauen Kutte geht Bruder Johannes langsam den staubigen Weg entlang. Kleine und große Zelte reihen sich rechts und links davon eng aneinander. Die Zeltschnüre sind zusammengeknüpft, denn auf dem Boden gibt es nicht genügend Platz - über 9.000 Menschen leben hier auf engstem Raum. Es ist 11 Uhr morgens, das Leben im Flüchtlingscamp im nordfranzösischen Calais beginnt. Am Rand waschen sich drei Jungs mit einem Schlauch, es riecht nach frischem Fladenbrot, vor der Essensausgabe bilden sich erste Schlangen. Calais ist der Ort, von dem aus viele Flüchtlinge versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Nur 50 Kilometer Ärmelkanal trennen die beiden Länder. Großbritannien ist in den Augen der Flüchtlinge das Paradies.

Johannes, mit bürgerlichem Namen Johan Maertens, wohnt seit Oktober 2015 in Calais. Der 44-jährige Mönch aus einem altkatholischen Orden in Belgien ist täglich im Camp unterwegs. Sein Job ist es nicht, Lebensmittel zu verteilen, sondern wärmende Worte zu sprechen. Er nimmt sich Zeit dafür, hört den Menschen zu.

Begegnungen unter Christen

Es dauert nicht lange, bis ein etwa 15-jähriger dunkelhäutiger Junge auf Johannes zuläuft. Er ist barfuß und spricht nur ein paar Wortfetzen Englisch. Der Junge, der durch die Wüste, über das Mittelmeer und durch verschiedene europäische Länder nach Calais gereist ist, ist beeindruckt von dem fast handgroßen silbernen Kreuz, das über der Brust des Mönchs baumelt. Stolz zieht er unter seinem T-Shirt ein braunes Holzkreuz hervor. Johannes nickt. Sie verstehen sich - obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Der Mönch kramt in seiner beigen Umhängetasche und zieht einen hellblauen Rosenkranz hervor. Die Augen des 15-Jährigen strahlen, als er das Geschenk in seinen Händen hält. Sie verabschieden sich herzlich, und Johannes geht weiter. "Mein Weg folgt den Menschen, die ich an diesem Tag treffen möchte", sagt er.

Heute macht sich Bruder Johannes auf den Weg zum Krankenhaus neben dem Camp. Ein paar weiße Container sind da, durch hohe Zäune getrennt vom Rest des Lagers. Während es draußen laut und unruhig zugeht, kann man hier das Zwitschern der Vögel hören. Auf ein paar Plastikstühlen im Schatten macht Johannes es sich mit drei Flüchtlingen gemütlich.

Said Bakhtari (19) aus Afghanistan wachte eines Tages auf und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Seine Freunde trugen ihn aus dem Camp, damit er medizinisch versorgt werden konnte. "Nun, nach vier Monaten kann ich endlich wieder ein paar Schritte ohne Krücken gehen", erzählt Bakhtari glücklich. Sein Bruder lebt in Großbritannien. Er hofft, dass er bald legal die Grenze überqueren kann.

Johannes lebt zusammen mit vier Freiwilligen aus Indien und den USA sowie vier Flüchtlingen im Maria-Skobtsova-Haus in der Stadt Calais. Morgens beten sie zusammen, dann helfen sie im Camp. Zwei Gründe waren es, warum die Bewohner Maria Skobtsova zur Patronin ihres Hauses auserkoren haben: Die russische Ordensfrau war selbst einst Flüchtling und orthodoxe Christin. "Der Großteil der christlichen Flüchtlinge im Camp in Calais ist orthodox", erklärt Johannes.

"Meine Brüder und Schwestern"

Die äthiopisch-orthodoxe Kirche im Camp ist auch der Ort, an dem Johannes gespürt hat, dass er bleiben möchte. Als er im Oktober 2015 nach langer Zeit wieder einmal nach Calais kam, betete er dort am frühen Morgen. Er war alleine, die Kirche war leer. Vertieft ins Gebet, bemerkte der Mönch nicht, wie sich die Kirche füllte. "Als ich die Augen öffnete, merkte ich, dass nicht Flüchtlinge neben mir waren, sondern meine Brüder und Schwestern", sagt er. "Ab dem Moment wusste ich, Gott möchte mich an diesem Ort der Erde." So stark habe er dieses Gefühl noch nie gehabt, sagt er.

Insgesamt gibt es fünf Moscheen und eine Kirche im Flüchtlingslager in Calais. "Die Religion vereint die Menschen im Dschungel", sagt Johannes. Viele Flüchtlinge setzten sich auf der Flucht intensiv mit der Bedeutung des Lebens auseinander. Auf ihrer Reise würden sie extreme Armut und Gewalt erleben. "Nach diesem Erlebnis sind die Flüchtlinge oft stärker mit Gott verbunden", beobachtet der Mönch.

"Ohne Religion bist du tot"

Das ist auch der Fall bei Henok Tewodros aus Äthiopien. Der 20-Jährige hat ein verschnörkeltes Kreuz auf dem linken Unterarm tätowiert. Er wohnt in einer kleinen Hütte direkt neben der äthiopisch-orthodoxen Kirche des Camps. "Ohne Religion bist du tot", sagt er. Für ihn ist der Glaube wichtiger geworden. Bevor er nach Europa geflohen sei, erklärt Tewodros, war er einmal in der Woche in der Kirche.

Tewodros ist auch der Maler der Kirche. Eins seiner Kunstwerke säumt den Kircheneingang. Es zeigt zwei Engel vor leuchtend hellblauem Hintergrund. Im Moment arbeitet er an einem neuen Bild. Stolz zeigt er eine zwei Meter große Leinwand, auf der Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern zu sehen ist. "Meine Lieblingsfarbe ist Gelb", sagt er. Die Farbe bedeute Hoffnung für ihn. Deshalb möge er auch gelbe Blumen so gerne.

Davon gibt es nicht weit von der Kirche jede Menge. Johannes geht nach einem langen Tag gerne zu Fuß zurück in die Stadt. Sein Weg führt ihn durch die Felder mit den gelben Blumen, wo zu Anfang des Jahres noch Zelte standen. Nachdem die Regierung den Bereich im März räumte, habe sich die Fläche schnell in eine Wildblumenwiese verwandelt. Das Leben im Camp ist schnelllebig. Die meisten Flüchtlinge bleiben nur zwei bis sechs Monate. Wie lange Johannes noch in Calais sein wird, steht noch nicht fest. "Nur Gott weiß das", sagt er und verschwindet in der Abendsonne Richtung Stadt.


London ist das Ziel... / © Elisabeth Schomaker (KNA)
London ist das Ziel... / © Elisabeth Schomaker ( KNA )
Quelle:
KNA