Unicef dringt auf Hilfe für Flüchtlingskinder

Neue Generation von Krisen

Das heutige Ausmaß des weltweiten Leids übertrifft alles seit der Gründung von Unicef. Diese Bilanz zieht das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen im Jahresbericht 2016 - und pocht auf Änderungen.

Autor/in:
Paula Konersmann
Flüchtlingskind im Libanon / © Nabil Mounzer (dpa)
Flüchtlingskind im Libanon / © Nabil Mounzer ( dpa )

"Eine neue Ära", das klingt nach Aufbruch, Veränderung, Neuanfang. Eine positive Erwartung schwingt darin mit. Im Jahresbericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef meint die Formulierung das Gegenteil: von einer "neuen Ära humanitärer Krisen" schreibt darin der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider. Eine "Generation der Kriegs- und Krisenkinder" wachse heran - mit verheerenden Folgen.

Viele dieser Kinder hätten "nie ein Leben in Sicherheit und Normalität" geführt, mit regelmäßigem Schulbesuch und ohne wirtschaftliche Not, ergänzt Susanne Schlüter-Müller, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Sie sind erschöpft und verstört, einsam und verzweifelt."

Drohende psychische Probleme

Der Krieg zerstöre das Grundvertrauen von Kindern, so umschreibt es Schneider. Unicef schätzt, dass 20 Prozent der Kinder, die allein vom Konflikt in Nahost betroffen sind, leichte bis moderate psychische Probleme entwickeln könnten. Entführung, Vergewaltigung, Folter und Ermordung von Kindern hätten in vielen Kriegsregionen regelrecht Methode. Hunger und Durst würden ebenfalls strategisch eingesetzt, so etwa in der syrischen Stadt Madaja.

Drastische Folgen haben Krisen auch für das Sozialleben. So müssen laut Unicef seit Beginn des Konflikts in Syrien immer mehr Flüchtlingskinder arbeiten: auf Feldern im Libanon, in jordanischen Geschäften oder als Schuh-Fertiger in der Türkei. In Jordanien sei inzwischen jedes dritte syrische Flüchtlingsmädchen unter 18 Jahren verheiratet.

Keine Schul- und Kindergartenbesuche

75 Millionen Kinder zwischen drei und 18 Jahren können laut Unicef weltweit keine Schule und keinen Kindergarten besuchen. Allein in Syrien zählte das Hilfswerk 2014 rund 60 Angriffe auf Schulen mit Mörsern oder Bomben - in Afghanistan 164, im Irak 67. In Nigeria hat die Terrorgruppe Boko Haram insgesamt bereits über 1.200 Schulen zerstört - all das, obwohl Angriffe auf Schulen international geächtet sind. Es könne "wie die Luft zum Atmen" sein, wenn Kinder während einer Krise zumindest in der Schule eine gewisse Normalität erlebten, erklären die Unicef-Bildungsexperten Brenda Haiplik und Friedhelm Affolter.

Doch schon heute wächst jedes neunte Kind in Ländern und Regionen auf, in denen bewaffnete Konflikte stattfinden. 16 Millionen Kinder wurden in einer Konfliktregion geboren; "Heimatlosigkeit ist ihr Zuhause", heißt es im Bericht. Die Direktorin der weltweiten Unicef-Nothilfeprogramme, Afshan Khan, rechnet mit einem weiteren Anstieg des Bedarfs an humanitärer Hilfe: "Die aktuellen Krisen sind keine kurzfristigen Notfälle, die sich nur vorübergehend auf das Leben und die Bildung von Kindern auswirken."

Darauf habe die internationale Gemeinschaft bislang "völlig unzureichend" reagiert, kritisiert Khan. Die Staatengemeinschaft neige dazu, "humanitäre Krisen und Entwicklungskrisen separat zu behandeln". Kinder, die unmittelbar von Krisen betroffen seien, unterschieden jedoch nicht "zwischen Not- und Entwicklungshilfe". Es gelte, humanitäre und Entwicklungsprogramme besser zu vernetzten und lokale Kapazitäten auszubauen.

Krise in Deutschland angekommen

Längst ist die Krise auch in Deutschland angekommen: Unter den eine Million Flüchtlingen und Migranten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, waren schätzungsweise 300.000 Kinder. Viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, schreibt Schlüter-Müller. Traumatisierten Menschen falle es schwer, Vertrauen zu fassen; oft mieden sie zudem Marktplätze oder Veranstaltungen und liefen so Gefahr, am gesellschaftlichen Leben nicht teilzuhaben.

Hinzu kommt laut Schlüter-Müller, dass viele Flüchtlinge es von ihrer kulturellen Prägung her nicht gewohnt sind, über psychische Belastungen zu sprechen. "Über persönliche Gefühle zu sprechen, ist ungewöhnlich und wird oft als unhöflich erlebt." Umso wichtiger sei es, dass die Betroffenen lernten, über das Erlebte zu sprechen. Und noch etwas gilt es zu bedenken, mahnt Schneider: Auch Kinder auf der Flucht seien "in erster Linie Kinder, die ein Recht auf eine Kindheit haben".


Quelle:
KNA